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Die Unterordnung der Individuen unter die Verbände, welche sie bilden, ist der konsequente Ausdruck dieser Auffassungsweise, der es bisher an einem allgemein anerkannten Namen fehlte, und die wir als die kollektivistische bezeichnen wollen. In dem Begriffe der ,,universitas" des römischen Rechtes im Gegensatze zur einfachen societas erhält dieser Gedanke seine scharfe juristische Formulierung, der Gedanke der,,die wechselnden Generationen der Individuen überdauernden Gesamtpersönlichkeit und des die Einzelwesen zu einer höheren Lebenseinheit verschmelzenden Gemeinwesens" 4).

Universalismus und Kollektivismus, zwei Seiten einer und derselben Weltauffassung pflegen daher in inniger Gemeinschaft aufzutreten; sie beherrschen die klassische griechische Philosophie, die Lehren eines Plato und Aristoteles ganz ebenso wie sie der mittelalterlichen Staatsauffassung und der Scholastik das charakteristische Gepräge verleihen.

Die Erhebung der Gattungsbegriffe wie der gesellschaftlichen Verbände zu selbständigen, den Einzelwesen übergeordneten Realitäten führt zu der entscheidenden Konsequenz, dass das Einzelwesen gegenüber der Gesamtheit an Bedeutung zurücktritt, dass es mit seinen Zwecken dieser untergeordnet wird. Nur von der Zugehörigkeit zu einer Gattung leitet es seine entscheidenden Eigenschaften ab, während alle anderen Eigenschaften als zufällig, unwesentlich bezeichnet werden; nur von der Einordnung in einen Verband gewinnt das Individuum seinen Wert. Es ist kein Selbstzweck: der Zweck der Gattung, verkörpert in dem Zwecke des Verbandes, bestimmt über sein Dasein, diesem Zwecke hat es sich mit seinen Zielen unterzuordnen. Die Heteronomie der Zwecke ist für die universalistische wie für die kollektivistische Auffassung kennzeichnend: bestimmte Gattung äusserer, räumlich und zeitlich kontinuierlicher Erscheinungen und Vorgänge werden in unserem Bewusstsein durch teleologische Betrachtung zu einer Einheit zusammengefasst . . . .“

4) Gierke, Johannes Althusius usw. S. 263. Der innige geistige Zusammenhang zwischen der universalistischen und der kollektivistischen Auffassung findet sich, wenn auch nur flüchtig, angedeutet bei Kuno Fischer, Einleitung in die Geschichte der Philosophie S. 64, dann bei Dietzel, Rodbertus, Bd. II, S. 26 fg. Sehr klar dagegen Jellinek a. a. O. S. 166.

das Ganze ist für sie früher vorhanden als der Teil.,,Obedience or subjection," so formuliert David Hume gelegentlich einer Kritik der individualistischen Kontraktslehre das Prinzip des Kollektivismus 5),,,becomes so familiar, that most men never make any inquiry about its origin or cause, more than about the principle of gravity, resistence, or the most universal laws of nature" 5).

Suchen wir nach einem Zusammenhange dieser Weltauffassung mit parallelen Erscheinungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, so finden wir ihn mühelos in den Zuständen der älteren Wirtschaftsverfassung, die durchaus von der Gebundenheit des Besitzes beherrscht ist, jener Gebundenheit, die, von dem gemeinsamen Eigentum an Grund und Boden ausgehend, bis zu den verschiedenen Formen des Ober- und Nutzungseigentums, überall die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass der einzelne in der Verfügung über seinen Besitz, in der Betätigung seiner wirtschaftlichen Kräfte, von der Zustimmung anderer abhängig, sich stets als einen Teil eines grösseren Verbandes fühlen musste. Ist doch auch dort, wo das freie Privateigentum verhältnismässig frühzeitig zur Anerkennung gelangt war, in den Städten, das wirtschaftliche Verhalten des einzelnen bis tief in die Neuzeit hinein gehemmt durch die Rücksichten auf die Verbände, denen er sich einordnen muss. und die über die Gestaltung seines Lebens bestimmen, ist doch der einzelne in jener bis dicht an die Gegenwart heranreichenden Zeit nur von Bedeutung als Glied eines Verbandes, als Angehöriger eines bestimmten Standes.

Als Kehrseite dieser Auffassung, die das Individuum dem Verbande einordnet, beobachten wir die Erscheinung, dass die Handlungen des Individuums nicht ihm allein zugerechnet werden; die ganze soziale Gruppe, der es zugehört, ist daran beteiligt. Nur in seiner Eingliederung in die Gruppe findet der einzelne sein Recht; er handelt aber immer auch im Namen. der Gruppe. Der Gedanke der Blutrache zum Beispiel, der in

5) D. Hume, Essays moral and political XXXIV. Of the Original Contract. Ed. Ward, Lock and Tylor p. 272. Ähnlich John Locke, der diese Auffassung bekämpft (Civil Government II, ch. VIII, §§ 113, 114).

abgeschwächter Form auch in zahllosen Fehden des Mittelalters noch lebendig ist, wird nur dann verständlich, wenn man diese auf der Idee des Kollektivismus basierende Repräsen

tation der Gesamtheit

der Familie, des Clans, des Dorfes, der Stadt durch das Individuum begreift ®). In der kirchlichen Lehre von der Erbsünde erhält die gleiche Vorstellung eine grandiose Erweiterung auf die ganze Menschheit 7).

Die in diesem Sinne skizzierte universalistisch-kollektivistische Auffassung bedeutet indes keine notwendige, unveränderliche Form menschlichen Denkens. Ihr tritt vielmehr, freilich erst auf höher entwickelten Stufen geistigen Lebens, eine andere Weltanschauung entgegen, die sich immer klarer und bestimmter der Tatsache bewusst zu werden glaubt, dass jener Gegensatz zwischen Individuum und Aussenwelt nur ein scheinbarer ist, dass das Individuum keineswegs einen Teil des Weltganzen bilde, sondern dass die Aussenwelt bloss in der Vorstellung des Menschen existiere, dass mithin auch die Gattungsbegriffe nichts anderes seien als Abstraktionen, leere Namen, eine Denkhilfe zur Zusammenfassung des Gleichartigen, aber keineswegs selbständige Realitäten. Der von der Scholastik, allerdings in engerem Sinne, verwendete Ausdruck Nominalismus mag zur Bezeichnung dieser Weltauffassung dienen.

Parallel mit der Ausbildung dieser zweiten Gedankenrichtung verschiebt sich auch die Stellung des Individuums zum Kollektivum, zum Verbande. Wenn nur der einzelne und seine Vorstellungswelt eine Realität beanspruchen darf, dann erscheinen auch die Verbände der Menschen lediglich als Vereinigungen ohne Sonderpersönlichkeit, dann können auch sie nicht die Aufgabe haben, irgendeinen höheren Gattungszweck der Menschheit zu erfüllen, weil der ganze Begriff dieser Gattung nur in der Vorstellung, nicht in irgendeiner Realität existiert. Nicht ein jenseits der Individuen stehender Zweck bestimmt die Aufgaben

6) L'état primitif était l'âge de la solidarité. Le crime même n'y était pas considéré comme individuel, la substitution de l'innocent au coupable paraissait toute naturelle: la faute se transmettait et devenait héréditaire." (Renan, Avenir de la science p. 307 f.)

7) Vgl. unten S. 20

der Verbände; sie erhalten ihre Ziele bloss von den Individuen, deren übereinstimmenden Absichten sie ihr Dasein verdanken. Aus der überragenden Stellung selbständiger, mit Eigenleben und Sonderbestimmung begabter Gesamtpersönlichkeiten werden sie herabgedrückt zur bescheidenen Rolle von Zweckvereinigungen, die lediglich berufen sind, den Interessen der Individuen zu dienen. Die soziale Bedeutung des Individuums erfährt hier eine entscheidende Umwertung. Sind mit der gesteigerten Produktivität in Industrie, Handel und Verkehr die Schranken der alten wirtschaftlichen Gebundenheit zu enge geworden, als dass die Verbände die Herrschaft über ihre Glieder wie früher behaupten könnten, so tritt nun das Individuum mit dem Anspruche auf, seine Interessen und Zwecke selbständig zu bestimmen, die Kollektiva, denen es sich bisher schlechthin als dienendes Glied eingeordnet hatte, bloss als Mittel zur besseren Erreichung seiner Sonderzwecke zu erfassen, es fühlt sich nicht mehr als abhängiger Teil eines Ganzen, sondern als der primäre, der übergeordnete Faktor, von dessen Willen die Existenz des Verbandes abhängt. Man hat sich längst daran gewöhnt, diesen Gedankenkreis als den individualistischen zu bezeichnen 8) 9).

8) Dietzel betont in seiner Schrift über Rodbertus, bes. Bd. II, S. 26 fg., dann im Artikel Individualismus im Handwörterbuch der Staatswissenschaften den axiomatischen Charakter der beiden sozialethischen Grundnormen: Individual- und Sozialprinzip mit aller Schärfe und hat die Bedeutung dieses Gegensatzes für die Kategorisierung der sozialphilosophischen Ideen in einer, wie mir scheint, unwiderlegbaren Weise aufgezeigt. Er macht den Vorschlag, den Ausdruck „Kollektivismus“ als „Generalnenner für alle dem Privatkapital feindlichen Häresien“ anzunehmen, während er als Sozialismus die Gesamtheit der Theorien bezeichnet, die das Sozialprinzip ins Extrem verfolgen, d. h. das Dogma, dass der einzelne um des Ganzen willen da sei, dass er betrachtet werden müsse als dienendes Glied des sozialen Organismus, der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung." Zur Bezeichnung jener Theorien, die das Sozialprinzip vertreten, verwendet er auch den Ausdruck ,,organische Systeme". Dieser Versuch, die herrschende Verwirrung in der Terminologie zu klären, hat wenig Erfolg gehabt; er scheint mir auch wenig gelungen zu sein. Was Dietzel als „Kollektivismus“ bezeichnet, hat nach allgemeinem Sprachgebrauch schon den Namen „Sozialismus“ erhalten. Den letzteren auf die Theorien des Sozialprinzips zu beschränken und gleichzeitig auszudehnen, ist ganz unmöglich, ohne den bisher üblichen

Jene tiefe hier angedeutete Antithese innerhalb der Begriffspaare Universalismus und Nominalismus, Kollektivismus und Individualismus führt in ihren Konsequenzen zu den entscheidenden Gegensätzen der Weltauffassung 10). Eine An

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schauung, die der Gattung eine von dem konkreten Einzelwesen unabhängige Existenz beimisst und das Individuum als Teil einem höheren Ganzen einordnet, muss zu dem Ergebnis gelangen, dass jene höheren Zwecke eine unabänderliche, über aller Willkür stehende Geltung behaupten. Ob sich das Individuum dessen bewusst ist oder nicht, die höheren Zwecke des Ganzen bestimmen über sein Schicksal, ihnen hat es sich, wenn sein Handeln ein richtiges sein soll, zu fügen; verfehlt, unsittlich ist jenes Handeln, das diesen Zwecken widerspricht. So entsteht die Vorstellung ewiger, unabänderlicher Vorschriften oder Normen für das Verhalten des Menschen; Normen, die vor den Menschen da sind und über ihnen stehen. Der konkrete Inhalt Sprachgebrauch von Grund aus umzustürzen. Wenn ich es vorziehe, zur zusammenfassenden Benennung der Vertreter des Sozialprinzips den Ausdruck Kollektivismus zu verwenden, so bin ich mir der Einwendungen wohl bewusst, die diese der Dietzelschen nahezu entgegengesetzte Terminologie erwecken mag. Allein ein besserer, mit aller wünschenswerten Schärfe und Knappheit ausgezeichneter Ausdruck liess sich leider nicht finden. Die Verwendung des Wortes Kollektivismus in seiner sonst gebräuchlichen Bedeutung, die sich von jener des Wortes Sozialismus kaum unterscheidet, ist mindestens eine Verschwendung; ich halte es daher für erlaubt, seine wissenschaftliche Okkupation für eine neue Bedeutung zu versuchen.

9) Vgl. auch Vidari, L'individualismo nelle dottrine morali del Secolo XIX, Milano 1909, der freilich den negativen Charakter des Individualismus sehr stark betont: „Dottrine individualistiche si devono intendere, in senso lato, tutte quelle che, in qualche modo e misura, affermano e dimostrano la necessità morale di emancipare l'individuo umano, cioè di liberarlo da qualche vincolo e soggezione, o sia essa a enti concreti e storici come la Chiesa, lo Stato, la tradizione scolastico, la classe soziale, o sia, per maggiore profondità di visione, a prinzipi ideali come il dogma, la legge morale, la dottrina. filosofica, la sovranità della maggioranza. Esse quindi sono tutte negatrici... 66 (S. 7. 8.)

10) Vgl. Jellinek, Allg. Staatslehre S. 166: „Für die gesamte Staatswissenschaft ist von hoher Bedeutung das Ergebnis, dass der Gegensatz in den prinzipiellen Anschauungen vom Staate zurückzuführen ist auf den Gegensatz der beiden grossen Weltanschauungen: der individualistisch-atomistischen (?) und der kollektivistisch-universalistischen."

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