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die Form und die Aufgabe des Staates nach ihren Wünschen zu ändern. Wurde die Lehre vom Staate durch die Vertragstheorie auf das innigste mit der Jurisprudenz verknüpft, so werden nun auch die Beziehungen der Individuen zueinander in jenem vorstaatlichen Naturzustande einer Untersuchung unterzogen, und damit wird die Gesellschaftslehre begründet, als deren besonderer Teil das allgemeine Staatsrecht erschien 7). Die Wirtschaftswissenschaft, die bisher unter der Übermacht der kollektivistischen Vorstellungen nur als Lehre von den Finanzen und vom Aussenhandel eine dürftige Behandlung gefunden hatte, gewinnt freie Bahn in ein neues Arbeitsfeld: die Beziehungen der Individuen zueinander und zu den Gütern. Damit tritt sie von neuem in enge Verbindung mit der Morallehre, um die entscheidenden Massstäbe für das wirtschaftliche Tun der Menschen zu gewinnen, das nun nicht mehr ohne weiteres durch die höheren Zwecke des übergeordneten Kollektivums bestimmt erscheint. Die Grundfrage der Ethik, die Frage nach dem Ursprunge des Sittlichen, des Sollens, bildet auch die Grundfrage der Sozial- und Wirtschaftsphilosophie. Gerade die Morallehre aber erfährt mit der Umwertung der Individuen und ihrer Bedeutung eine tiefgreifende Umwälzung.

Denn für die Ethik taucht das Kernproblem des Individualismus auf, die brennende, allen Lösungsversuchen immer von neuem spottende Frage, welche die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts dauernd beschäftigen sollte. Wenn nicht mehr eine von aussen kommende Offenbarung den Menschen die Massstäbe für ihr sittliches Handeln gibt, wenn auch die Unterordnung der Individuen unter die Gesamtheit, den Staat, nicht von Anbeginn existierte, sondern auf ihrer Übereinkunft beruht, wie löst sich dann der Zwiespalt, der zwischen dem Bestreben des Menschen nach restloser Befriedigung seiner Triebe, nach rücksichtsloser Verfolgung seines Interesses und den widerstreitenden, auf der gleichen Grundlage beruhenden Forderungen der anderen entsteht? Jener Zwiespalt, den die kirchliche Lehre durch Verdammung der Selbstsucht und die merkantilistische Staatsauffassung durch Unterwerfung der Individuen 7) Gierke, Joh. Althusius S. 102.

unter die höheren Zwecke des Staates einfach genug beseitigt hatten; jener Zwiespalt, der wohl am besten durch die Gegenüberstellung der Schlagworte des Nützlichen und des Gerechten bezeichnet werden kann. Schon bei Bacon spielt dieses Problem eine Rolle: er scheidet die auf das Wohl des Ganzen abzielenden Handlungen von jenen, die dem eigenen Interesse dienen, und gibt den ersteren schlechthin den Vorrang vor den letzteren 3). „Die lex naturalis erscheint ihm als sozialer, auf das Wohl der Gesamtheit gerichteter Trieb des Einzelmenschen, der sich mit dem Triebe der Selbsterhaltung auszugleichen hat" "). Auch von den Naturrechtslehrern des 17. Jahrhunderts wird die Streitfrage überwiegend im Sinne eines angeborenen Primats der sozialen Triebe beantwortet, im Sinne einer natürlichen Unterordnung der Interessen des Einzelnen unter jene der Gesamtheit. Das Recht wird universalistisch aus angeborenen Ideen erklärt. So von Grotius, dem das Streben der Menschen nach Gemeinschaft auf einem ihnen von Natur aus eingepflanzten Triebe beruht, der sie zur Gemeinschaft treiben würde, auch wenn sie keine Bedürfnisse hätten 10). Dieser Trieb bildet die

8) „Inditus est atque impressus unicuique rei appetitus, ad duplicem naturam boni; alteram, qua res totum quiddam est in se ipsa; alteram, qua est pars totius alicuius maioris. Atque posterior haec illa altera dignior est, et potentior, cum tendat ad conservationem formae amplioris. Nominetur prima bonum individuale, sive suitatis; posterior bonum communionis“. (Baco de Augm. Scientiarum L. VII Cop. 1. S. 398 der Amsterdamer Ausgabe von 1685.) Der Zusammenhang der kollektivistischen Ethik mit der universalistischen Erkenntnislehre ist hier sehr deutlich.

9) Dilthey, Autonomie des Denkens etc. S. 49. Vgl. auch Jodl, Gesch. der Ethik I. S. 610 Anm. 17, der betont, „wie entschieden Bacon die Realität der sozialen Neigung in Anspruch nimmt, wie sehr er sie zum Zustandekommen einer sittlichen Handlung fordert, und wie wenig er geneigt ist zu jener später versuchten Ableitung auch der (scheinbar) auf das Wohl des Ganzen gerichteten Handlungen aus dem individuellen Interesse, dem bonum suitatis“.

10) Grotii de jure belli ac pacis libri tres. Prolog. § 16: „Naturalis juris mater est ipsa humana natura quae nos, etiamsi re nulla indigeremus, ad societatem mutuam appetendam ferret." Ähnlich ebenda § 18: „Tum vero etiamsi ex juris observatione nulla spectaretur utilitas, sapientiae non stultitiae esset eo ferri, ad quod a natura nostra nos duci sentimus". Vgl. auch Hasbach, Die philosophischen Grundlagen usw. S. 34. Hasbach sucht die Entstehung der Naturrechtslehre durchwegs auf den Einfluss der stoischen und epikureiDie Entstehung d. individualist. Sozialphilosophie. 4

Grundlage des natürlichen Rechts, das, unabhängig von jeder Nützlichkeitserwägung, auch dann vorhanden wäre, wenn die rechtliche Ordnung nicht der besseren Befriedigung ihrer Be dürfnisse dienen würde. Der Sozialkontrakt schafft daher das natürliche Recht nicht, er begründet nur die Anerkennung seiner Existenz und bindenden Kraft.

Aber die skeptischen Geister konnten sich bei dieser Annahme einer natürlichen Ordnung nicht beruhigen, die den Konflikt zwischen dem Nützlichen und dem Gerechten einfach überbrückte durch die Annahme einer Überlegenheit des angeborenen Sozialtriebs. Die Macht, mit welcher das Selbstinteresse der Menschen erfahrungsgemäss auftrat, schien im Widerspruche mit dieser unbewiesenen Voraussetzung zu stehen; hatte doch auch die Kirche mit der ganzen Fülle ihrer Drohungen und Strafmittel den sündhaften Egoismus des Menschen vergeblich bekämpft. Und der Streit um den Inhalt des natürlichen Rechts bewies vollends, dass das letztere sich keineswegs mit der Kraft einer selbstevidenten Lehre dem Menschengeiste offenbarte. Schon Montaigne hatte zu Ende des 16. Jahrhunderts auf den problematischen Charakter dieses Naturrechts hingewiesen 11).

Die Allgemeingültigkeit seiner Sätze wurde vollends in Frage gestellt, wenn die entscheidende Konsequenz der nominalisti

schen Philosophie zurückzuführen. Von diesem Standpunkte aus erhebt er gegen die Lehren eines Grotius und Pufendorf den Vorwurf, dass sie das Naturrecht auf einen angeborenen Sozialitätstrieb begründen, obwohl es auf diese Weise „den Charakter einer unbedingten Hoheit verliert". Mit Befremden muss Hasbach bemerken, dass weder die Stoiker, noch viel weniger die Epikureer, das Recht aus einem derartigen Gemeinschaftstriebe herleiteten (a. a. O. S. 35 und 44). Es ist der unüberwundene Rest einer kollektivistischen Auffassung, der in dieser Sozialitätslehre steckt, die Menschen dem Walten einer ihre Gemeinschaft begründenden Naturkraft unterwirft und damit in Widerspruch tritt mit der zum Individualismus hinüberleitenden Annahme der Vernunft als alleinigen Regulators menschlichen Handelns.

11) Vgl. Essais, liv. II. ch. XII: „Car ce que nature nous aurait véritablement ordonné nous l'ensuyvrions sans doute d'un commun contentement: et non seulement toute nation, mais tout homme particulier ressentiroit la force et la violence de cette loy. Qu'ils m'en montrent, pour voir, une de cette condition."

schen Philosophie gezogen und mit der Existenz eines Sozialtriebs auch die Annahme eines unmittelbar in der Vernunft gegebenen ewigen, unabänderlichen Rechtes bestritten wurde. Dann ergab sich die Folgerung, dass das Recht, wie der Staat seinen Ursprung bloss in dem Willen der Menschen habe, als Summe positiver Rechtssätze, deren Inhalt durch die Übereinkunft, den Vertrag der Individuen bestimmt wird.

Von Hobbes wird der erste Schritt auf dem vielverschlungenen Wege dieser Entwicklung getan 12) und die entscheidende Frage gestellt, wie sich die Unterordnung der Menschen unter die Bedürfnisse der Gemeinschaft mit dem Selbstinteresse in Einklang bringen lässt, jenem Triebe, der bei einer Analyse der sozialen Eigenschaften als letzte, nicht mehr auflösbare Instanz erscheint 13). Da das Selbstinteresse nur ein Kriterium für seine Entscheidungen kennt, die Nützlichkeit, so war damit der Ableitung aller Sittlichkeit aus Nützlichkeitserwägungen, der Utilitätsmoral, das breite Tor geöffnet, durch das sie ihren Einzug in die Sozialphilosophie hielt. „Jus and utile,“ sagt Hobbes,,,is the same thing“ 14).

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Wirkt im Naturzustande der Menschen das ungebändigte Selbstinteresse, so herrscht hier der Kampf aller gegen alle. Erst Erwägungen der Zweckmässigkeit die Not und die Furcht haben die Menschen zur Bildung von Staaten geführt, deren Existenz auf einem zwischen den Individuen abgeschlossenen Vertrage beruht. Und alles Recht hat letzten

12) Über die Verwertung der Idee des Sozialvertrags durch die reformierte Kirche Englands namentlich Richard Hooker und ihre Bedeutung für das Staatsrecht der amerikanischen Kolonien, vgl. Jellinek, Allgem. Staatslehre S. 189 und die das. zit. Schriften.

13) „Fertur unusquisque ad appetitionem eius quod sibi bonum est, idque naturali necessitate, non minori quam qua lapis deorsum fertur." (De cive I § 7.)

14) Die ganze Stelle lautet: „Every man by nature has right to all things. . . . And for this cause it is rigthly said, Natura dedit omnia omnibus, that Nature has given all things to all men; insomuch that Jus and Utile, Right and profit, is the same thing. But that Right of all men to all things is in effect no better than if no man had Right to any thing. For there is little use and benefit of the Right a man has, when another as strong or stronger than himself, has Right to the same". (Hobbes, De corpore politico I. ch. I. Londoner Ausg. v. 1750 S. 36).

Endes seinen Ursprung ebenso in dem Vertrage der Individuen, gemäss der individualistischen Formel: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris 15). Denn Unrecht kann man nur jenem zufügen, mit dem man einen Vertrag abgeschlossen hat 16). Die alte universalistische Annahme einer Vernunft, mit deren Hilfe wir die ewigen, unabänderlichen Grundsätze des Rechtes zu erkennen vermögen, hat mit der Ablehnung des unwandelbaren Rechtes eine tiefgehende Wandlung erfahren; für Hobbes ist die Vernunft vor allem das Vermögen, das eigene Interesse wahrzunehmen und die zu seiner Befriedigung notwendigen Mittel zu wählen 17).

Insoweit ist die Hobbes'sche Lehre in ihren Grundlagen rein individualistisch. Allein die Frage nach dem Verhältnisse des Staates zu den Individuen löst er durch jene unerwartete Wendung, welche die Selbstliebe für unzureichend erklärt, um das soziale Zusammenleben auf die Dauer zu verbürgen. Zur Erhaltung des Friedens, d. h. des Gleichgewichtes der egoistischen Bestrebungen ist ein einheitlicher Wille erforderlich, eine gemeinschaftliche Gewalt, welche die Sonderbestrebungen durch die Furcht vor Strafe im Zaume hält und die Verträge in ihrem Bestande sichert. Die gemeinschaftliche Gewalt muss ausserhalb der Individuen stehen, und so wird das soziale Leben der Menschen durch heteronome Gesetze bestimmt, wie ihr isoliertes durch autonome Motivation geleitet war: „,Ad societatem ergo homo aptus non natura, sed disciplina factus est." Es unterwerfen sich also die Menschen durch den Vereinigungsvertrag einem übergeordneten Willen, dessen Träger der Staat ist, der Leviathan; Recht und Unrecht werden durch sein positives Gesetz bestimmt. Dem Staate gegenüber ist der einzelne rechtlos, hat er doch,,gar nicht mit dem Herrscher, sondern lediglich mit allen übrigen einzelnen über den gemeinsamen und gleichzeitigen Verzicht alles Rechtes und aller Freiheit zugunsten 15) Leviathan Cap. XIV S. 152 der zit. Ausgabe. 16) Hobbes, de corp. polit. I. Cap III § 3 und 5.

17),,This common measure, some say, is right reason, with whom I should consent, if. there were any such thing to be found or known in rerum natura. But commonly they that call for right reason to decide any controversy, do mean their own". (De corp. polit. II. Chap. X p. 93 der zit. Ausg.)

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