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3. Kapitel.

Die Entstehung des naturrechtlichen Individualismus im Vorstellungskreise des Rationalismus.

Jene universalistische Lehre von der das Weltall und sein Geschehen beherrschenden göttlichen Vernunft, als deren Ausstrahlung die Vernunft des Menschen erscheint, bot die Grundlage für eine vom scholastischen Denken durchaus verschiedene Betrachtungsweise der Dinge. Die rechtgläubige kirchliche Doktrin hatte strenge an dem Gedanken festhalten müssen, dass die Annahme unabänderlicher Naturgesetze mit dem Begriffe der göttlichen Allmacht unvereinbar sei; vielleicht ist die ganze Scholastik nichts als eine Kette von immer erneuten Versuchen, die Lehre von der unbeschränkten Willkür Gottes logisch zu begründen. Ihre Widersprüche hatten ja den Nominalismus Occams zum Zweifel an der Möglichkeit jedes Erkennens geführt.

Die Vorstellung von einer das All durchdringenden Weltvernunft musste den Streit im Sinne einer Ablehnung der göttlichen Willkür entscheiden, nicht ohne sich in der verschie densten Weise mit dem kirchlichen Dogma abzufinden 1). Sie leitete aus dem Gedanken einer planmässigen Einrichtung des Weltalls die Forderung ab, diese Planmässigkeit und ihre Gesetze zu entdecken. Indem sie jedem einzelnen Menschen seinen Anteil an der Weltvernunft zuschreibt, verleiht sie ihm eine Fähigkeit, welche die Kraft seiner Persönlichkeit weit über das Mass eines gläubigen und blinden Anhängers der kirchlichen Offenbarungslehre steigert. So steckt in der Vernunftlehre, obwohl sie in universalistischen Anschauungen wurzelt, der Keim des Individualismus, der, auf die Kraft der Vernunft vertrauend, durch Erforschung der Naturgesetze die Herrschaft

1) So lehrt z. B. Descartes: „Der einzige Grund alles Existierenden, aller Wahrheit, aller Güte und alles Rechtes sei allein der absolut unbeschränkte Wille Gottes. . . . Die obersten Sätze der Erkenntnis und des Rechtes . verbinden daher nur deshalb, weil Gott sie gerade so und nicht anders gewollt hat. Nachdem sie nun einmal so angeordnet sind, erscheint uns freilich ihr Gegenteil unmöglich . . . .“ (Jodl, Gesch. der Ethik I. S. 389).

über die Natur zu erlangen sucht 2). In ihrem Ausgangspunkte teleologisch wie alles menschliche Denken, ist die Vernunftlehre von dem Streben geleitet, die Beziehungen zwischen den Erscheinungen auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung zurückzuführen und mündet so in jene kausale Betrachtungsweise, die Bacon als die Grundlage aller wahren Erkenntnis bezeichnet.

Die kausalen Zusammenhänge lassen sich nur durch Zerlegung der Kollektiverscheinungen in ihre Teilerscheinungen erforschen. Der gleiche Geist der Analyse, der im 17. Jahrhundert in die Naturwissenschaften eindringt und hier zu den revolutionären Entdeckungen eines Copernicus, Kepler und Newton führt, erfüllt in immer gesteigertem Masse auch jene Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und seinen sozialen Beziehungen befassten. Hier wie dort wurde die gleiche Methode herrschend; das „,dissecare naturam", das Bacon gefordert hatte, die Zerlegung der Kollektiverscheinungen in ihre Elemente, die dann ihrerseits auf Grund der Annahme einer das Weltganze planmässig ordnenden Regelmässigkeit in Beziehung gesetzt wurden. Diese Planmässigkeit wurde zunächst rein mechanisch erfasst. War doch die Mechanik die „Lieblingswissenschaft der Zeit“ 3).

Nach zwei Richtungen war der Weg für die Erkenntnis der Dinge geöffnet, denn in zweierlei Vermögen der Vernunft schien sich eine Grundlage für das Erkennen zu bieten: entweder in jener Vernunft, welche die angeborenen Ideen in sich

2) So sagt Descartes: „Ce mot Philosophie signifie l'estude de la sagesse; et par sagesse on n'entend pas seulement la prudence dans les affaires, mais une parfaite connoissance de toutes les choses que l'homme peut scavoir tant pour la conduite de sa vie que pour la conservation de sa santé et l'invention de tous les arts." (Lettre de l'Auteur à celuy qui a traduit le livre. Principes de la philosophie de Descartes Paris 1659.) Für Bacon besteht die Aufgabe des Wissens darin, „durch Erfassung der kausalen Zusammenhänge dem Menschen die Herrschaft über die Natur zu sichern“. Vgl. Neumann, Wirtschaftl. Gesetze im Jahrb. f. Nat. u. Stat. 3. Folge Bd. 16 S. 10.

3) Dilthey, Autonomie des Denkens S. 44. Vgl. auch Lange, Gesch. des Materialismus I. S. 199 und meinen zit. Aufsatz über die Idee des Gleichgewichtes.

birgt, mit ihrer Hilfe die Begriffe zu erfassen und aus ihnen das Weltgeschehen zu konstruieren vermag. Der Rationalismus übernimmt hier die Grundidee des alten Realismus, dass jenseits der konkreten Erscheinungsformen der Dinge, nur unserem Denken zugänglich, die wahren Realitäten existieren.. Durch die Analyse der Dinge ergibt sich als ihre letzte von selbst gewisse Eigenschaft die Ausdehnung. Die Teilung und Verbindung der Materie führt zu den verschiedenen Gestaltungen und Bindungen; sie entstehen sämtlich durch Bewegung. ,,Das Wesen der Körper besteht in der Raumgrösse, die Ver-änderung derselben in der Bewegung; jenes wird mathematisch, diese mechanisch begriffen" 4). Diese Auffassung wird auch auf das Gebiet des sittlichen und des sozialen Lebens übertragen. Auch hier werden die letzten nicht mehr ableitbaren Regeln der Sittlichkeit in angeborenen Ideen der Vernunft gesucht. Die Vernunft ist es, die nicht nur die Regeln gibt, sondern auch den Willen beherrscht, damit er sie befolgt. Für das sittliche wie für das soziale Leben ergibt sich so ein statischer, keiner Veränderung zugänglicher Idealzustand, von dem freilich infolge des menschlichen Irrtums wie der menschlichen Bosheit. zahlreiche Abirrungen möglich sind. Diese Richtung der ratio-nalistischen Philosophie geht in Frankreich von Descartes aus ;. sie findet ihre Fortsetzung in Spinoza und Leibniz.

Ihr tritt die zweite Form der Vernunftphilosophie gegenüber, welche die Existenz angeborener Ideen leugnet und nur in den sinnlichen Wahrnehmungen das Vermögen unserer Vernunft erblickt, die Aussenwelt zu erfassen. Nur die Erfahrung vermag uns daher einen Einblick in die uns umgebenden Erscheinungen zu gewähren, und nur aus der Erfahrung lassen sich, wenn der Verstand nicht a priori über die fundamentalen. Grundsätze des Rechtes und der Sittlichkeit verfügt, ihre Regeln erkennen. Der Ursprung unserer sittlichen Vorstellungen muss daher in anderen Quellen gesucht werden als in

4) Kuno Fischer, Gesch. der neueren Philos. 3. Aufl. I. 1. S. 370. Lange führt (a. a. O. S. 199) auf Descartes „jene mathematische Richtung der Naturphilosophie zurück, welche an alle Erscheinungen der Natur den Massstab der Zahl und der geometrischen Figur anlegte".

unserem Verstande. Es ist der Geist des Nominalismus, der in diesen empiristischen Systemen in neuer Form und mit einer neuen Aufgabe erscheint. Der scholastische Nominalismus hatte, durchdrungen von der Überzeugung, dass die Freiheit Gottes in der Beherrschung der Natur nirgends eine Schranke finden könne, jede Möglichkeit einer Erkenntnis der Gesetzmässigkeit göttlichen Handelns und damit des Naturgeschehens überhaupt geleugnet. Er hatte damit die Religion von der für sie so gefährlichen Nähe der Philosophie, den Glauben von dem ewig unzulänglichen Wissen befreien wollen. Dem neuen Nominalismus handelt es sich umgekehrt um die Befreiung des Wissens vom Glauben 5). Nur auf den durch die Sinnenwelt zugänglichen Erfahrungen beruhend soll nun das Wissen eine unanfechtbare von religiösen Vorstellungen möglichst unbeeinflusste Grundlage erhalten. Mit Bacon beginnend führt dieser philosophische Nominalismus über Hobbes zu Locke.

So erhebt sich denn mit diesen neuen Formen der Weltanschauung auf allen Gebieten des geistigen Lebens der Widerspruch gegen die überkommene, traditionelle Lehrmeinung: das religiöse und sittliche Denken ist beherrscht von dem Kampfe gegen die Offenbarungslehre der Kirche; in der Erkenntnislehre ringt der Kausalgedanke mit der kirchlichen Metaphysik; auf dem Gebiete des politischen Lebens führt die Analyse der Kollektiverscheinungen alsbald dazu, in den Individuen die primären, eigenberechtigten Glieder des Staates anzuerkennen; eine Analyse der Eigenschaften der Menschen, die in die Leugnung angeborener Ideen mündet, führt zu dem Ergebnisse, alle menschliche Betätigung letzten Endes auf den nicht mehr aufzulösenden Trieb der Selbsterhaltung zurückzuführen, es ist der Geist des erwachenden Individualismus, der all diese Kämpfe belebt, und das dunkle, immer bewusster - werdende Streben in sich birgt, die Menschen von jenen Fesseln zu befreien, welche die Macht der Kollektivverbände ihnen auf

5) Es fehlte übrigens in Frankreich im 17. Jahrhundert nicht an einem Skeptizismus (Huet, Lamothe de Vayer, Pascal) der an der Kraft der Vernunft verzweifelte, eine natürliche Sittlichkeit zu finden und wieder zur Offenbarungslehre der Kirche flüchtete.

erlegt hatte. Die Lehren der epikureischen Philosophie, jener ersten, grossen Ausprägung des Individualismus, erwachen zu neuer Bedeutung; ihr steigender Einfluss ist uns das beste Symptom für den völligen Wandel der Anschauungen.

Für die Sozialphilosophie, die uns zunächst beschäftigt, bedeutet dies die Begründung einer ganz neuen Vorstellungswelt, in welcher die Kollektiva, vor allem der Staat, nicht mehr als natürliche, von dem Willen der vereinigten Individuen unabhängige Gesamtgebilde erscheinen, sondern als bewusste Schöpfungen der Vernunft, als Verbände, deren Entstehung und Existenz in dem Willen ihrer Glieder begründet ist. Von Hugo Grotius wird der Teil für älter als das Ganze erklärt und damit der Grundgedanke des Individualismus formuliert 6). Nun konnte sich die Staats- und Wirtschaftslehre nicht mehr darauf beschränken, die Beziehungen der Staaten als Gesamtheiten zu ihren Herrschern und zueinander zu untersuchen, das Verhältnis der Individuen zum Staate musste den Ausgangspunkt aller Betrachtung bilden. Für die Staatslehre folgt daraus eine Verschiebung der Fragestellung: entstand der Staat aus der Vereinigung der Individuen, so musste eine juristische Konstruktion für seine Existenz gsucht werden. Sie ergab sich unter Verwertung der überkommenen Vertragsidee in der Theorie vom Gesellschaftsvertrage, die von einem vorstaatlichen Zustand der Individuen ausging und dann den Staat als societas aus der freien Vereinigung der einzelnen entstehen liess. Während die kollektivistische Theorie des Herrschaftsvertrages den Staat als eine von Gott eingesetzte, notwendige, über den Menschen stehende Institution erfasste, beruht die Lehre vom Gesellschaftsvertrage auf dem revolutionären, individualistischen Gedanken, dass der Staat eine Schöpfung, mithin ein Werkzeug der Individuen sei, ein Gedanke, aus dem sich alsbald die logische Konsequenz ergeben musste, dass der Staat dauernd den Zwecken seiner Glieder zu dienen habe, dass es diesen freistehen müsse,

6) Grotius de jure belli II cap 6 § 4: „Nam qui in civitatem coëunt, societatem quandam contrahunt perpetuam et immortalem, ratione partium quae integrantes dicuntur: unde sequitur has partes non ita esse sub corpore ut sunt partes corporis naturales, quae sine corporis vita vivere non possunt.

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