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Allein mit dem zunehmenden Verfall der Kirche nimmt der Ablassgedanke einen geradezu individualistischen Charakter an. Die Sünden, die nach der alten kollektivistischen Vorstellung eine soziale Sühne erfordern, können nun durch eine blosse Vereinbarung des Sünders mit einer ausserhalb des engeren sozialen Verbandes stehenden Macht, den Sendlingen des Papstes, getilgt werden. Das war es, wogegen sich der kollektivistische Geist der Völker germanischer Rasse auflehnte. Von hier nahm die Reaktion dieses Geistes gegen die fortschreitende Verweltlichung der Häupter und Glieder der katholischen Hierarchie ihren Ausgangspunkt. Das Luthertum wie der Kalvinismus bezeichnen mit ihrer Rückkehr zu der alten, strengen Prädestinationslehre einen Sieg des kollektivistischen Gedankens in neuer Form. Denn wie alle christlichen Konfessionen halten auch sie,,an dem einen Satze mit Zähigkeit fest, dass ohne den Glauben, d. h. ohne die Zugehörigkeit zu dieser bestimmten, allein die religiöse Wahrheit repräsentierenden kirchlichen Gemeinschaft kein sittliches Verdienst für den Menschen und kein Heil zu hoffen sei" 7). Denn was hätte die Tatsache der Erlösung, diese ,,ungeheure Leistung Gottes" für einen Sinn, wenn der Mensch auch ohne Teilnahme an diesem Rettungswerke die ewige Seligkeit erlangen könnte? So wiederholt denn der Streit zwischen Erasmus und Luther in neuer Form nur den alten, niemals völlig überwundenen Gegensatz zwischen einer autonomen Begründung der Sittlichkeit auf eine dem Menschen angeborene natürliche Anlage und einer heteronomen Morallehre, die der Offenbarung und der göttlichen Gnade bedarf, um die sündige Menschheit zu erlösen.

Deutlich erkennbar ist die Umbildung, die unter dem Einflusse des erwachenden Persönlichkeitsbewusstseins der kollektivistische Gedanke hier erfahren hat. Er nimmt seinen Ausgangspunkt nicht von jener weltumspannenden Universalität des Katholizismus, die prinzipiell keine Grenzen in der Ausdehnung der kirchlichen Gemeinschaft kennt; er ist, besonders in der kalvinistischen Form, gegründet auf die engere Gemeinschaft, die durch das Gefühl der Stammeszugehörigkeit erzeugt

7) Jodl, Gesch. der Ethik I. S. 187 fg. Vgl. für das folgende ebda S. 204 fg. Die Entstehung d. individualist. Sozialphilosophie. 3.

wird ganz analog jenem Kollektivismus, der dem alttestamentarischen Judentume zugrunde liegt und sich in diesem auserwählten Volke Gottes durch alle die Jahrhunderte seiner Diaspora getreulich erhalten hatte. Es ist der Zunftgeist des Mittelalters, der im Kalvinismus wie im Luthertume seine Auferstehung auf religiösem Gebiete feiert, und vielleicht erkennen lässt, dass es in den Ländern germanischer Rasse der römischen Kirche niemals gelungen war, jenem universellen Gedanken eines weltbeherrschenden Katholizismus zum uneingeschränkten Siege zu verhelfen.

Der Katholizismus hatte die Erlangung der göttlichen Gnade durchaus von der Vermittlung durch die Kirche abhängig gemacht; nun wird der einzelne seinem Gotte ohne das Dazwischentreten dieses kollektivistischen Mittelgliedes gegenübergestellt. Den Puritaner beherrscht das Gefühl, ein Erwählter Gottes zu sein, ein Gefühl, das dem Katholiken durchaus fremd ist 8). Er fühlt sich im Besitze einer besonderen Gnade, und ist bereit, besondere Pflichten auf sich zu nehmen. Aus diesem Gefühle ergibt sich zugleich das Bewusstsein, dass jede Handlung, die er vornimmt, von Bedeutung ist für die ganze soziale Gruppe, der er angehört, und die Kehrseite dieses Gefühls, das Bewusstsein einer solidarischen Verantwortlichkeit aller für das Tun jedes Mitgliedes der Gruppe. Es ist im Grunde derselbe Gedanke des Berufs, der schon im Mittelalter in den zünftigen Handwerkern lebendig gewesen war, und in der thomistischen Lehre seine philosophische Begründung erhalten hatte 9). Aber er erlangt hier eine besondere religiöse Weihe und eine Steigerung, die ihn weit hinaushebt über die alte, engere Form. Die Arbeit erscheint nicht mehr als Gattungspflicht der Menschheit, sondern in der Form des konkreten, bestimmten Berufs als eine jedem einzelnen zugewiesene Aufgabe 10).

Universalistische Vorstellungen stehen in enger Verbindung mit diesen modifizierten kollektivistischen Gedankenreihen.

8) Vgl. u. a. Patten, Development of Englich Thought p. 109. 9) Maurenbrecher, Thomas v. Aquino etc. S. 34 fg. und die Zitate das. 10) Vgl. die bekannte Darstellung von Max Weber, Die protest. Ethik und der Geist des Kapitalismus im Arch. f. Sozialwissenschaft. Bd. 20 S. 41 fg.

Man hat mit Recht darauf hingewiesen 11), dass die Idee eines Status, eines Zustandes, in den Lehren der Kalvinisten eine Hauptrolle spielt; sie kennen einen Zustand der Schuld und der Unschuld, der Reinheit und der Sünde, des Lebens und des Todes, der Gnade und der Verdammung. Und immer bedeutet dieser Zustand nicht etwa eine wechselnde Eigenschaft des Menschen, sondern eine Zusammenfassung aller seiner inneren und äusseren Lebensbedingungen. Der Übergang aus dem Zustande der Schuld in jenen der Unschuld bezeichnet einen Wandel aller dieser Lebensbedingungen auf religiösem Gebiete, wie etwa der Übergang vom Stande des Ritters in jenen des Bauern oder des Knechtes einer völligen Veränderung der ganzen Persönlickkeit gleichkam. Auch hier lebt die alte universalistische oder synthetische Vorstellung in neuer Gestalt auf, die den Menschen nie isoliert, immer als Angehörigen eines bestimmten Standes erfasste.

Auch die Berufung auf das „innere Licht", das dem Puritaner im Wege der direkten Offenbarung die Richtung für sein Handeln zeigt, ist nichts als eine mystische Umbildung des alten universalistischen Gedankens der angeborenen Idee, die hier freilich unter dem Einflusse des erstarkenden Persönlichkeitsbewusstseins, ebenso wie der Gedanke des Berufs, eine neue subjektive, man könnte fast sagen, individualistische Färbung erhält.

Die in universalistischen Anschauungen wurzelnde Annahme angeborener Ideen bot zunächst auch die Grundlage für eine theoretisch fundierte Befreiung der weltlichen Herrschaft von den Ansprüchen der Kirche. Hatte der Nominalismus die Trennung des Glaubens vom Wissen zu vollziehen gesucht, indem er die Möglichkeit einer Erkenntnis, der Wahrheit überhaupt leugnete, so war diese Antwort viel zu wenig befriedigend, um den Ansprüchen des philosophischen Denkens zu genügen; die universalistischen Vorstellungen waren anderseits viel zu stark, um nicht mit erneuter Kraft hervorzutreten. So wurde denn mit der fortschreitenden Vertiefung in die Philosophie des Altertums das Streben nach einer neuen Welt

11) Patten, Development of English Thought p. 147.

anschauung immer lebendiger, die, wenn sie auch keine Befreiung von der Offenbarungslehre brachte, doch ein Mittel bot, die Sätze der Offenbarung mit Hilfe der Erkenntnis zu kontrollieren. In einer vom Glauben unabhängigen Instanz mussten daher die Grundlagen für die Erkenntnis des Sittlichen und Gerechten gesucht werden, in der menschlichen Vernunft, die in Anlehnung an die alten, niemals völlig überwundenen Vorstellungen der stoischen Philosophie als ein Teil der grossen göttlichen Weltvernunft, der summa ratio, als eine Art „Ausstrahlung des göttlichen Denkens in der Seele des Menschen" 12), als eine Art „Erbgut" der Seele aufgefasst wurde 13). Mit Hilfe der Vernunft gedachte man die ewigen, unabänderlichen, natürlichen Grundlagen der Sittlichkeit und des Rechtes aufzufinden, wobei dann freilich zunächst immer wieder eine Versöhnung dieser natürlichen Gesetze mit der dogmatischen Kirchenlehre gesucht wurde 14).

Die Aufgabe der Vernunft ist mit der Entdeckung dieser natürlichen Gesetze nicht beendet; die Vernunft ist es auch, welche alle sozialen Einrichtungen schafft, sei es, dass sie sich dabei von den wahren Grundsätzen leiten lässt, oder dass sie irrt. So werden denn alle diese Institutionen, der Staat und

12) Dubois, Evol. du droit naturel etc. in der Revue d'histoire des doctrines écon. I. p. 259.

13) Dass diese Lehre von der im Menschen wirkenden Weltvernunft sich während des ganzen Mittelalters neben der kirchlichen Offenbarungslehre behauptet hatte, zeigt Jodl, Gesch. der Ethik I. S. 137 fg., 146 fg. Die Theologen nannten die angeborene, auch durch den Sündenfall nicht völlig verlorene Fähigkeit der Vernunft, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, und die angeborene Neigung für das Gute Synderesis.

14) Vgl. Dilthey, Autonomie des Denkens im Archiv für Gesch. der Philosophie Bd. VII S. 75. Auch das kanonische Recht spiegelt den niemals völlig überbrückten Gegensatz zwischen der heteronomen Offenbarungslehre und einem natürlichen Rechte wieder. Die Idee eines solchen, den Menschen eingepflanzten natürlichen Rechts, dem auch die Heiden unterworfen sind, findet sich bei Paulus und kehrt in zahlreichen Schriften der Kirchenväter wieder. (Vgl. Dubois a. a. O. S. 284.) Bei Gratian, der sonst regelmässig die Offenbarungslehre mit dem aus dem römischen Rechte entlehnten jur naturale identifiziert, finden sich gleichwohl Stellen, die das geoffenbarte von dem natürlichen Recht unterscheiden. Vgl. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I. S. 157 Note.

das Recht vor allem, als bewusste Schöpfungen der Vernunft aufgefasst 15). Die Wahrheiten der Vernunft aber sind, eben weil sie als Ausstrahlungen des göttlichen Denkens von Urbeginn an existieren, unabänderlich, sie unterliegen keinem Fortschritte, keiner Umbildung. Weder für die Religion, noch für Recht und Sittlichkeit gibt es daher eine Entwicklung; es gibt nur eine Annäherung an die Wahrheit, ein Erkennen und Verwirklichen des Naturgesetzes und seine Verletzung, die auf Unwissenheit oder Bosheit beruhen kann. Dem Staate, dem Fürsten aber wird die grosse Aufgabe zugewiesen, die Lehren der Vernunft auf Erden zur Geltung zu bringen 16). So erscheint das Naturrecht in dieser Form berufen, dem Absolutismus eine theoretische Stütze zu gewähren.

Neben die längstbekannte, unter dem Einflusse der aristotelischen Philosophie stehende universalistische Lehre, welche die Ursache der Staatengründung in einem den Menschen angeborenen Naturtriebe suchte, tritt nun eine andere Theorie, nach welcher es die natürliche, angeborene Vernunft ist, die die Menschen zu staatlichen Gebilden vereinigt; der Naturtrieb erhält lediglich den Charakter einer causa remota oder impulsiva. Beruht die Existenz des Staates unmittelbar auf der von Gott stammenden Vernunft, so ist sie von jeder kirchlichen Autorität unabhängig: vor allem in dieser praktischen Konsequenz bestand die Bedeutung dieser Staatstheorie in dem Kampfe der weltlichen Macht um die Befreiung von der päpstlichen. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts, bei Machiavelli und Thomas Morus, ist diese Staatsauffassung trotz aller ihr feindlich gegenüberstehenden Theorien der Monarchomachen zum unbestrittenen Siege gelangt 17); die theokratische Lehre, die den Rechtsgrund des Staates lediglich in einer ihm von der Kirche übertragenen Autorität erblickte, und daraus das Recht der Kirche ableitete, über die Fürsten zu herrschen und sie zu

15) Vgl. auch Hasbach, Die philos. Grundlagen der von Smith und Quesnay begründeten polit. Ökonomie S. 126 fg.

16) Espinas, La philosophie sociale du 18me siècle et la révolution p. 66. 17) Eine nachträgliche Episode in diesem Kampfe ist die Polemik des Hobbes gegen den Kardinal Bellarmine.

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