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den Gedanken eines Selbstzwecks der Individuen mit jener anderen, fast niemals völlig verleugneten Auffassung zu vereinigen, die bloss einen höheren, über den Individuen stehenden Zweck des Kollektivums kennt 25)?

Die folgende Darstellung unternimmt den Versuch, an der Entstehungsgeschichte der naturrechtlichen Sozialphilosophie in grossen Zügen die wichtigsten Phasen jenes jahrhundertelangen Ringens anzudeuten, in welchem die kollektivistische Vorstellungswelt schliesslich dem individualistischen Denken unterlag. Dieser Kampf ist so reich an überraschenden Wendungen wie an rückläufigen Bewegungen, dass eine nur halbwegs erschöpfende Darstellung ein mehrbändiges Werk erfordern würde. Hier mag es genügen, die grossen Linien zu zeichnen und die Probleme zu formulieren, die dem Kampfe die Richtung gegeben haben.

1. Kapitel.

Der universelle Kollektivismus des Mittelalters. Das mittelalterliche Denken war durchaus von universalistisch-kollektivistischen Vorstellungen beherrscht 1) 2). „Unter dem Zwange der römischen Weltherrschaft verwandelte sich der

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25) Vgl. auch Grünberg, Art. Sozialismus im Elsterschen Wörterbuche der Volkswirtschaft, der mit Recht betont, dass ,wohl keine Theorie des sozialen Seinsollens rein und ausschliesslich auf dem Individual- oder auf dem Sozialprinzip allein aufgebaut ist. Grünberg lehnt freilich aus diesem Grunde eine Kategorisierung der Soziallehren mit Rücksicht auf ihre ethische Motivierung unbedingt ab. Anders Vidari, L'individualismo etc., der zwei wesentliche Erscheinungsformen des Individualismus unterscheidet: „Dall' una parte le dottrine che vogliono liberar l'individuo in nome di un principio di ragione che ciascuno ritrova nel proprio spirito, come norma della condotta e freno della natura; dall' altra le dottrine che vogliono liberar l'individuo in nome della sua natura medesima che si contrappone alla ragione e pretende di esser soddisfatta o seguita. . . . Le une le razionalistiche, sono individualistiche in nome di un principio per sè universale; le altre acquistano talora tinta universalistica pure in nome di un principio individuale“. (S. 12 fg.)

1) Das gleiche gilt von langen Perioden des Altertums. Dass die Platonische Philosophie von den Grundgedanken des Universalismus getragen ist, bedarf keiner näheren Begründung. Im engen Zusammenhange mit der

nationalpolitische Typus der jüdischen Messiasidee in einen universell-religiösen. Durch die Verbindung der zu einer allgemeinen religiösen Lehre erweiterten Messiasidee des Judentums mit der Logoslehre der platonischen Philosophie, welche der Evangelist Johannes vollzog, erwuchs der Messias allmählich zu der im Fleische geoffenbarten Weltidee, dem Mensch gewordenen Gotte 3)". Der tiefe Glaube an die Existenz von unveränderlichen, in Gott selbst ruhenden Ideen, als deren Abbilder die wechselnden Erscheinungen des Lebens sich darstellen, erfüllt die Augustinische Philosophie 4) und wurde zum Dogma der orthodoxen Lehre. Die Menschheit als untrennbare Gesamtheit stand der selbst als Kollektivum, als Dreieinigkeit aufgefassten Gottheit gegenüber eine Konstruktion des Gottesbegriffs, die dem rein nominalistischen Denken unfassbar erscheinen muss 5). Als untrennbare Einheit, als eine mit

universalistischen Weltanschauung Platos steht seine kollektivistische Konstruktion des Staates. Einen ähnlichen Charakter zeigt auch die Philosophie des Aristoteles. (Vgl. u. a. Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft S.77.) 2) Den überzeugten Bekennern des Individualismus fehlt es freilich an Verständnis für diese Weltauffassung. Sie haben wiederholt den Versuch gemacht, nachzuweisen, dass weder Plato noch Aristoteles das Individuum dem Staate untergeordnet haben. (So z. B. ähnlich wie vor ihm schon Laveleye neuerdings Maurice Block, L'État et la société im Journal des Économistes 1894 S. A. p. 9 fg.).

3) Eicken, Geschichte u. System der mittelalterlichen Weltanschauung S.108. 4) „Sunt namque ideae principales formae quaedam vel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt . . . et quum ipsae neque oriantur neque intereant, secundum eas tamen formari dicitur omne quod interire potest et omne quod oritur et interit." Augustinus, De ideis 2. Zit. nach Überweg-Heinze, Grundriss der Gesch. der Philos. II (8. Aufl.) S. 125. „Im ganzen blieb", so bemerkt Lange (Geschichte des Materialismus I. 5. Aufl. S. 161), „die platonisierende Auffassung (der „Realismus") bis gegen Ende des Mittelalters die herrschende und gleichsam die orthodoxe Ansicht."

5) So schon im 11. Jahrhundert dem Nominalisten Roscellinus, dessen Lehre im Jahre 1092 vom Konzil zu Soissons verworfen wurde (Vgl. ÜberwegHeinze, Grundr. d. Gesch. d. Philos. II 8. Aufl. S. 172). Die geistige Verwandtschaft zwischen dem religiösen Kollektivismus und dem politischen zeigt deutlich eine von Gierke (Althusius, S. 106 Note 80) zitierte Stelle aus Praschius, Designatio juris naturalis ex disciplina Christianorum. Ratisb. 1688: "Societas quae ex pluribus unitis constat, magnificentiae divinae est convenientior et naturae Dei, qui est unus ac trinus, proprior."

realer Existenz begabte Gattung war die ganze Menschheit durch den Sündenfall eines einzelnen dauernd mit dem Fluche der Erbsünde belastet; der Weg zur Erlösung von diesem Fluche war ihr durch den Kreuzestod Christi eröffnet worden, durch das Sühneopfer des Heilands, das,,eine Form juristischer Genugtuung bedeutet, einen stellvertretenden Ersatz für das immer unzureichende Tun der Menschen "). Das Leben der Menschen auf Erden wird aufgefasst als eine Vorbereitung für das Gottesreich im Jenseits, das rein kollektivistisch gedacht ist; denn dort gibt es keine Individualinteressen. Alle irdischen Wünsche und Begehrungen müssen daher jenem höheren, jenseitigen Kollektivum geopfert werden, das im Diesseits seine Verkörperung in der mystischen Einheit der Kirche findet. DieKirche ist allen Verbänden feind, die etwa neben ihr bestehen, nicht nur dem Staate, sondern auch der Familie. Daher die hohe Wertung des Zölibats. Wenn einer zu mir kommt," heisst es im Evangelium Lukas 14, ,,und nicht seinen Vater hasst, seine Mutter, sein Weib, seine Kinder, seine Brüder und Schwestern, ja sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein." Und der Und der weltliche Staat war nur eine Folge des Sündenfalles 7).

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Die

Nur die Kirche, dieses mächtige, die gläubige Menschheit umfassende Kollektivum, ist im Besitze der Gnadenmittel; niemand kann allein, ohne ihre Mitwirkung, selig werden. Kirche ist als das Reich göttlicher Gnade, wie diese selbst, unbedingt und unabhängig von dem Zutun des Menschen; sie geht den einzelnen voraus, sie erscheint, wie bei den Alten der Staat, als das Ganze, welches früher ist als die Teile..."). Und durchaus kollektivistisch ist auch die ganze Organisation der kirchlichen Hierarchie mit ihrem Grundgedanken der apostolischen Sukzession. Ein gewaltiger Geist der Einheit, dem sich alle Glieder widerspruchslos zu fügen haben, erfüllt dieses.

6) Jodl, Geschichte der Ethik I (1906) S. 137, 141.

7) Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung S. 357 fg.

8) Kuno Fischer, Einl. in die Gesch. der Philosophie S. 49. Über die Analogie des platonischen Staats mit der katholischen Kirche, vgl. ebenda. S. 61, 64.

mächtige Gebäude, ein Geist der Einheit, der in den philosophischen Systemen eines Thomas von Aquino und eines Dante ) sein Abbild findet, ein Geist der Einheit, dessen Symbole uns heute noch mit aller Sinnenfälligkeit in Erscheinung treten in den hochragenden gotischen Domen; das Kapital und die Arbeit von Tausenden hat sich hier bedingungslos einer grossen einheitlichen, von religiösem Empfinden beseelten architektonischen Idee unterworfen, in ihrem Dienste alle Teile des Bauwerks zu einem widerspruchslosen Ganzen gefügt.

Auch die mittelalterliche Staats- und Gesellschaftslehre spiegelt diesen universalistischen Geist getreulich wieder. Der Mensch ist ihr von Natur aus ein geselliges Wesen; der Trieb nach Gemeinschaft ist ihm angeboren, auch im Zustande der Unschuld haben die Menschen in Gemeinschaft gelebt 10). Dass nach Naturrecht unter den Menschen die Gemeinsamkeit aller Güter herrschen solle, ist ein oft betonter Grundsatz des kanonischen Rechtes 11).

Der realistischen Weltanschauung jener Zeit erscheinen alle Gattungsbegriffe, daher auch jener der Menschheit, als wirklich existierende Wesen, als reale Einheiten; die Verschiedenheiten der Individuen sind lediglich zufälliger Natur12). Die,,Menschheit in ihrer Totalität" wird daher als ein,,von Gott selbst gestifteter und monarchisch beherrschter Staat“ aufgefasst, als corpus mysticum, universitas etc. 13). Daher die stets erneuten Versuche, Universalkirche und Universalweltreich als eine Einheit darzustellen, weil die herrschenden Gewalten nur als verschiedene Äusserungen einer und derselben Kraft erfasst werden konnten:,,Wie Gott inmitten seiner himmlischen Hierarchie

9) Vgl. Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri S. 41.

10) Vgl. Thomas von Aquino, Summa Theol. I. q. 96 Art. 4 Conclusio: ,Homo. naturaliter est animal sociale, unde homines in statu innocentiae socialiter vixissent."

11) Vgl. Maurenbrecher, Thomas v. Aquinos Stellung im Wirtschaftsleben seiner Zeit und die Zitate daselbst aus Isidor v. Sevilla, Gratian, Thomas S. 103 und 108.

12) Vgl. Bryce, Das heil. röm. Reich, übersetzt von Winckler S. 70 fg. Ihm folgend sehr treffend Kelsen, Dante S. 122.

13) Gierke, Althusius, S. 61 und die Zitate daselbst Note 11.

selige Geister im Paradiese regiert, so beherrscht der Papst, sein Vikar, erhöht über Priester, Bischöfe, Metropoliten, hier unten die Seelen der sterblichen Menschen. Aber da Gott Herr des Himmels und der Erde ist, so muss er durch einen zweiten, den irdischen Statthalter vertreten sein, dessen Macht von dieser Welt und für das gegenwärtige Leben sein soll. Unter dem Sinnbilde des Körpers und der Seele wird uns die Beziehung der päpstlichen und kaiserlichen Gewalt das ganze Mittelalter hindurch vorgestellt 14).“

Der Vergleich des Staates mit einem organischen Körper, wie er im Anschlusse an den ersten Korintherbrief sich bei Augustinus, dann bei Thomas von Aquino und bei zahlreichen anderen mittelalterlichen Staatsphilosophen findet, ist mehr als eine blosse Analogie, wie denn die Scholastik mit ihren realisierenden Tendenzen geneigt war, jedem Vergleiche eine reale Bedeutung beizulegen und eine unbedingte Übereinstimmung: der Vergleichsobjekte vorauszusetzen. Wenn der Staat als organischer Körper bezeichnet wird, so gelangt damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass er ein Ganzes darstelle, dessen Teile untereinander in demselben Verhältnisse stehen müssen, wie die Glieder des Körpers und dessen Bewegungen dem Willen des Hauptes zu gehorchen haben, wie die Bewegungen der Glieder dem Willen des Kopfes 15). Die Berufsgliederung beruht daher auf göttlicher Vorsehung 16); der König ist in seinem Reiche das, was die Seele im Körper und Gott in der Welt.

In jenem weltbewegenden Kampfe, der zwischen Kaisertum und Papsttum, zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt entbrennt, ist es im Grunde die gleiche universalistische Vorstellung, der die beiden streitenden Teile ihre Beweismittel entlehnen: der Gedanke einer Einheit der gläubigen Christenheit. Die scholastischen Argumente, mit denen die Herrschaft des

14) Bryce a. a. O. S. 74 fg. Vgl. auch Stahl, Geschichte der Rechtsphilosophie 3. Aufl. S. 64.

15) Vgl. das Zitat aus Thomas, De regimine princ. 1. IV 23 bei Contzen, Gesch. der volksw. Literatur im Mittelalter S. 16.

16) Vgl. Thomas, Quaest. disputatae etc. VII art 17 c zit. bei Maurenbrecher a. a. O. S. 34.

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