Imagens das páginas
PDF
ePub

höhere, hinter den Individuen stehende Begriff eine selbständige Existenz führt. Nicht vom konkreten, historisch gewordenen Menschen, nicht vom konkreten Staate, vom konkreten Gute nimmt dieses Denken seinen Ausgangspunkt, sondern von einer Abstraktion, einem Typus ,,Mensch", "Staat", "Gut", Gut“, dem man alle jene Eigenschaften beilegte, die als entscheidend. für die Gattung angesehen wurden.

Das Verhältnis des Individuums zum Kollektivum steht unter der Herrschaft der gleichen Vorstellungen. Nicht die Bezie hungen der Individuen zueinander fesseln zunächst die Aufmerksamkeit der Sozialphilosophen, sondern die Beziehungen der Verbände. Unter Berufung auf ihren übergeordneten Zweck wird die soziale, politische, wirtschaftliche Ungleichheit der Individuen gerechtfertigt. Ist doch das Individuum dieser Auffassung kein Selbstzweck, sondern nur ein „Untertan" des Verbandes.

Die Beziehungen der Gesamtheiten zueinander erfasst nun der Kollektivismus auf Grund der Annahme eines Gleichgewichtes, einer Annahme, die, offenbar tief in ästhetischen Empfindungen wurzelnd 21), ermöglicht wird durch das allem Universalismus eigene Streben, überall fest gegebene, unveränderlich bestimmte Quantitäten vorauszusetzen. Schon die Zahl der mit selbständiger Existenz begabter Gattungen ist ein- für allemal fixiert, nicht minder die Summe der der Gattung zugehörigen, für sie charakteristischen Eigenschaften. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer Vermehrung, einer Vergrösserung überhaupt nicht. Allein der Gedanke der fest bestimmten Quantitäten wird von hier aus auf die Menge der in der Welt vorhandenen Dinge übertragen. Jene universalistische Geschichtsauffassung, der das Leben der Staaten und Völker als ein beständiger Kreislauf erscheint, als eine unaufhörliche Wiederkehr des Gleichen, ist ganz durchtränkt von der Vorstellung, dass die Güter der Welt eine Vermehrung über eine fest gegebene Summe hinaus nicht zulassen 22). In zahl

21) Vgl. dazu Franz Eulenburg, Naturgesetze und soziale Gesetze im Archiv f. Sozialwissenschaft Bd. XXXI S. 727.

22) Sehr charakteristisch für diese Auffassung ist z. B. eine Stelle bei Ma-

reichen Variationen kehrt die gleiche Vorstellung wieder in den Quantitätstheorien, den ersten tastenden Versuchen national

ökonomischen Denkens.

Die Realisierung der Gattung als Inbegriff bestimmter Eigenschaften birgt aber noch einen andern bedeutsamen Gedanken. Erscheinen die konkreten Einzeldinge als Abbilder der über ihnen schwebenden Idee, so führt diese Annahme zu der Konsequenz, dass in den freilich mit Mängeln aller Art behafteten Dingen dieser Welt die Tendenz bestehe, sich jenen reinen, vollkommenen Ideen zu nähern, sie zu erreichen, dass der Stoff ,,die Form der Möglichkeit nach, als Dynamis, in sich enthält❝ 23), dass die Dinge uns als eine Stufenfolge von Formen erscheinen, von denen die niedere immer die Anlage zur nächst höheren in sich birgt, als Stufenreihe von Entelechien. Es ist dies jene aristotelische Umgestaltung des platonischen Realismus, die den Entwicklungsgedanken deutlich zum Ausdruck bringt. In der Sozialphilosophie gelangte dieser Gedanke freilich erst vergleichsweise spät zunächst bei Turgot, Ferguson und Condorcet, dann in vollkommener Form bei Hegel zum Durchbruch.

Leitet so die universalistische Weltauffassung alle wesentlichen Eigenschaften der Dinge wie der Menschen von der unabänderlichen, gottgezeugten Idee ab, muss sie diese Eigenschaften daher für unwandelbar erklären, soweit sie nicht eine allmähliche Annäherung an das doch jedenfalls feststehende Ideal annehmen mag, so kennt der Nominalismus diese Schranken nicht. Für ihn leben ja die Begriffe nur in unserer Vorstellungswelt; sie sind wandelbar, wie die Dinge selbst, aus denen sie abstrahiert wurden. Die nominalistische Sensationstheorie kennt ausser unserem Vermögen, Lust und Schmerz zu empfinden und ausser der Denkkraft keine ursprünglichen, angeborechiavelli, einem der Hauptvertreter der Lehre vom ritornare da segno: „ Giudico il mondo sempre essere stato ad un medesimo modo ed in quello essere stato tanto di buono quanto di tristo; ma variare questo tristo e questo buono di provincia in provincia, come si vede per quello si ha notizia di quelli regni antichi che variavano dall' uno all' altro per la variazione de' costumi, ma il mondo restava quel medesimo“. . . . (Discorsi L. II. Einl.).

23) Vgl. K. Fischer, Einl. in die Gesch. der Philosophie (4. Aufl.) S. 24.

nen Eigenschaften des Menschen. So stammen denn die Differenzierungen, die wir an den Menschen wahrnehmen, von aussen her, von äusseren Eindrücken ein Gedanke von weittragender, geradezu revolutionärer Bedeutung für die Sozialphilosophie: er eröffnet die Aussicht auf eine bewusste, willkürliche Umbildung der menschlichen Eigenschaften durch Vermittlung äusserer Eindrücke, im Wege der Erziehung, er eröffnet den Ausblick auf einen völligen Umsturz aller sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch den übereinstimmenden Willen der Menschen. Beruht alle Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, alles Recht nur auf der freien Übereinkunft der Menschen, so hindert sie nichts, die Grundlagen dieses Daseins nach Belieben, von heute auf morgen zu ändern, wofern nur alle von dem gleichen Willen beseelt sind. Die universalistische Auffassung hatte nur in der Rückkehr zu einer weit hinter uns liegenden goldenen Vergangenheit oder in einer unendlich langsamen Annäherung an das vollkommene Ideal das Heil der Menschheit suchen können: der Nominalismus kann von der Belehrung und Bekehrung der Menschen unvermittelt die Einführung von Glück und Frieden erwarten.

Indem er mit dem Glauben an die Realität der Begriffe auch den Glauben an die reale Existenz der menschlichen Verbände zerstört, und die Unterordnung der Individuen unter höhere Zwecke der Kollektiva leugnet, schafft er freie Bahn für den zündenden Gedanken einer Freiheit und Gleichheit der Menschen. Denn unter diesem Schlagworte fasst er alle Ansprüche des einzelnen auf Anerkennung als Selbstzweck zusammen. Dieses Schlagwort ist es, dem der nominalistische Individualismus seine furchtbare, staatenerschütternde Kraft verdankt, dieses Schlagwort, das überall dort lebendig wird, wo tiefgehende Umwälzungen im wirtschaftlichen und geistigen Leben den bisher unterdrückten Klassen die Aussicht auf das Aufsteigen zu höheren Lebens- und Kulturgenüssen eröffnen und die Hoffnung auf eine unbegrenzte Möglichkeit weiterer Umwälzungen erwecken 24).

24) Es war mir eine erfreuliche Bestätigung meiner Ansichten, dass auch Albert Schatz in seinem geistreichen Buche L'individualisme économique et

Tief und unversöhnbar klafft der Gegensatz der beiden Pole sozialphilosophischen Denkens und politischen Empfindens. Und doch ringt auch dieser Gegensatz immer wieder nach neuen Formen der Ausgleichung. Denn zu mächtig wurzelt offenbar im Fühlen der Menschen die Überzeugung von einer grundsätzlich notwendigen Einordnung der einzelnen in einen höheren, über ihnen stehenden Verband, als dass die Auffassung des Individuums als eines unverantwortlichen, selbstherrlichen Wesens jemals auf die Dauer allgemeine, unumschränkte Anerkennung hätte finden können. Und auch dort, wo das Individuum im Kampfe gegen das übermächtige Kollektivum seine Unabhängigkeit behauptet, sucht es, gestützt auf universalistische Vorstellungen, seine vermeintlichen Rechte zur Geltung zu bringen. Durch die Berufung auf einen höheren Plan des Weltganzen, der die Unterordnung des Individuums unter

social p. 41 fg. den Zusammenhang der beiden Vorstellungspaare Universalismus-Kollektivismus und Nominalismus-Individualismus hervorhebt, freilich, ohne ihn in seine entscheidenden Konsequenzen zu verfolgen, und ohne in der Terminologie zu einer einwandfreien Bestimmtheit zu gelangen. Er verwendet das Wort Sozialismus zur Bezeichnung dessen, was wir oben Kollektivismus genannt haben. Zwischen der individualistischen und der sozialistischen Weltanschauung, so führt er aus, klafft ein Gegensatz, der die ganze Auffassung unseres psychischen Lebens beherrscht. Die Sozialisten gehen von dem Gedanken aus, dass eine angeborene Fähigkeit, welche die göttliche Vernunft in uns wiederspiegelt, uns die letzten Prinzipien der Dinge enthüllt. In der Philosophie können sie sich auf Plato, den heiligen Augustin, Descartes, Malebranche und Hegel berufen. . . . Die andern, die Individualisten, erklären die menschliche Seele als unbeschriebenes Blatt; die Vernunft enthüllt dem Menschen nichts und ist noch weniger fähig, seine Entschliessungen zu bestimmen. Das Gefühl allein ist es, das uns Lust und Leid unterscheiden lehrt und uns handeln lässt. Deshalb finden sich alle liberalen Nationalökonomen, die gleichzeitig Philosophen waren, auf derselben Seite sie sind Empiriker in ihrer Erkenntnistheorie, Utilitarier in ihrer Morallehre, von Mandeville bis Taine und Spencer, über Locke, D. Hume, Condillac, Ad. Smith und J. St. Mill. Das ist freilich so ziemlich alles, was Schatz über diesen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie und der sozialphilosophischen Weltauffassung bemerkt. Die Verwendung des Ausdrucks Sozialismus im angegebenen Sinne eines unbedingten Gegensatzes zum Individualismus führt ihn dann freilich vielfach zu anfechtbaren Schlussfolgerungen. (Vgl. meine Besprechungen des Schatzschen Buches in Grünbergs Archiv für Geschichte des Sozialismus Bd. I Heft 3.)

fremde Zwecke verbietet, gewinnt es die Kraft, dem Verbande zu trotzen, seine Überlegenheit zu verneinen; es fühlt sich als Teil einer göttlichen Weltordnung, die es mit seiner Vernunft zu erfassen glaubt. Nach Überwindung der heteronomen Offenbarungslehre schöpft der Individualismus aus dem universalistischen Gedanken einer Weltvernunft die Grundlagen eines ewigen, unveräusserlichen und unveränderlichen natürlichen Rechtes, er erlangt damit jene furchtbare Waffe, die er gegen den Absolutismus kehrt. Paaren sich hier Individualismus und Universalismus, so zeigt uns die Geschichte der Sozialphilosophie auch das umge kehrte Schauspiel. Der Nominalismus, der die Existenz eines höheren Gattungszwecks leugnet, dem das soziale Leben der Individuen von keinem das Weltganze beherrschenden Plane gelenkt erscheint, verzweifelt an der Möglichkeit, aus Erwägungen der Nützlichkeit allein die Grundsätze für ein geordnetes Zusammenleben der Menschen abzuleiten, dessen Notwendigkeit sich doch aus aller Erfahrung ergibt; er flüchtet zurück zu der Macht des Kollektivums und überträgt diesem die Aufgabe, zwischen den widerstreitenden Interessen der einzelnen durch sein positives Gebot zu entscheiden.

Den versöhnenden Übergang in diesem weltgeschichtlichen Kampfe, den das Individuum gegen das Kollektivum führt, bilden jene geistvollen Systeme der Sozialphilosophie, die den Gegensatz dadurch zu überbrücken suchen, dass sie unter Berufung auf einen göttlichen Plan des Weltgeschehens die grundsätzliche Harmonie beider Interessen lehren, eine Harmonie, die wohl vorübergehend gestört und aufgehoben werden könne, die sich aber schliesslich automatisch verwirklichen müsse, wenn die in den Menschen wirkenden Triebe zur freien Entfaltung gelangen. Hier ist das Individuum scheinbar ein Selbstzweck, es dient aber gleichzeitig, ohne es zu wissen und zu wollen, den Zwecken der Gesamtheit, die nicht minder ein eigenberechtigtes Dasein führt. So bedeutet denn die Lehre der klassischen individualistischen Sozialphilosophie den bewunderswerten Versuch einer Synthese der beiden Gegensätze; die Frage nach der Entwicklungsgeschichte des Individualismus wäre daher wohl am besten so zu formulieren: Wie sucht der Individualismus Die Entstehung d. individualist. Sozialphilosophie.

2

« AnteriorContinuar »