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dieser Normen wird religiös gestimmten Zeitaltern im Wege der göttlichen Offenbarung enthüllt; sobald sich das vom Zwang religiöser Vorstellungen befreite Denken selbständig in den Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu orientieren sucht, werden diese Normen aus angeborenen sozialen Trieben unmittelbar abgeleitet, und vom Menschen mit Hilfe seiner Vernunft als einem Teil der überall wirksamen Weltvernunft erkannt.

Alles Naturrecht beruht auf universalistischen Vorstellungen; es basiert auf dem Gedanken, dass vor und über den Menschen, vor und über den in ihrer Gemeinschaft kraft positiver Vorschrift geltenden Satzungen ein allgemein verbindliches Gesetz steht, dass dem Individuum kraft seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch gewisse Rechte angeboren sind und sein unverlierbares, unveräusserliches Gattungsmerkmal bilden.,,Ce qui est bien et conforme à l'ordre est tel par la nature des choses et indépendamment des conventions humaines" (Rousseau) 11). Allgemeinheit der Geltung sowohl für die Völker wie für die einzelnen, Unwandelbarkeit und höchste materielle Gerechtigkeit sind die Attribute dieses absoluten Rechts 12). Man kann den universalistischen Kern dieses Gedankens nicht treffender ausdrücken, als Montesquieu dies getan hat in dem berühmten Satze 13),,Dire qu'il n'y a rien de juste ni d'injuste que ce qu'ordonnent ou défendent les lois positives, c'est dire qu'avant qu'on eût tracé de cercle tous les rayons n'étaient pas égaux. Il faut donc avouer des rapports d'équité possibles antérieurs à la loi positive qui les établit." Wie der Gedanke einer Gleichheit der Radien vor der konkreten Existenz des Kreises für jenen unverständlich ist, der nicht an die Realität eines Begriffs des Kreises glaubt 14), so ist das Naturrecht unfassbar, wenn man

11) Contrat social 1. II. ch. VI.

12) Vgl. Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie I. S. 607.

13) Exprit des lois 1. I. ch. I.

14) So z. B. für Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I S. 167, der zu der zitierten Stelle einigermassen naiv bemerkt: „In einem nicht gezogenen Kreise gibt es überhaupt keine Radien, also auch keine gleichen“. Ähnlich ablehnend Schatz, L'individualisme économique et social p. 55.

sich dem Gedanken verschliesst, dass das Recht eine von menschlicher Satzung unabhängige Existenz führe.

Der überwiegend intellektualistische Charakter des Universalismus, der das Recht mit Hilfe der Vernunft zu erkennen sucht, tritt namentlich in den späteren Formen des Naturrechts deutlich genug zutage 15). Es hatte übrigens auch schon der scholastische Realismus das Naturgesetz,,für einen vom Willen unabhängigen actus intellectus, für eine blosse lex indicativa erklärt, bei welcher Gott nicht Gesetzgeber sei, sondern nur als Lehrer durch die Vernunft wirke, kurz für die im Wesen Gottes begründete, aber für Gott selbst unabhängige Aussage der Vernunft über das Gerechte" 16). Für den Nominalismus, der die unabänderliche, selbständige Existenz der Gattungsbegriffe leugnet, ist es dagegen der Wille, der souverän das Weltgeschehen beherrscht. Daher gelangt der scholastische Nominalismus in seinen Versuchen, die Lehre von der Existenz Gottes mit der Ablehnung jener Realität der Gattungsbegriffe zu vereinigen, zu der Annahme einer freien, an keine unwandelbaren Gesetze gebundenen Willkür Gottes; er steht in dem Streite, ob das Recht physei oder thesei sei, auf dem Standpunkt, dass nur ein konkreter Befehl Recht schaffe.

So verneint auch der konsequente Individualismus für das soziale Leben die Existenz eines Rechtes, das vor den Einzelindividuen da ist und über ihnen steht. Will er das Dasein des Rechtes erklären, so muss er, da das Individuum nur von seinen eigenen Zwecken, nicht von jenen eines übergeordneten Ganzen

15) Da die Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert übereinstimmend die Grundsätze des Rechtes aus der Vernunft abzuleiten bestrebt war, wurden die Ausdrücke Naturrecht und Vernunftrecht vielfach synonym gebraucht. Wenn Bergbohm (a. a. O. I. S. 123 Note 3) seine Verwunderung darüber ausspricht, dass hier das „Rationelle und also Reflektierte" ebenso benannt werde „wie das doch gewissermassen gegensätzlich Unreflektierte und Natürliche“, so scheint er zu übersehen, dass jenen, die im Gegensatze zu dem positiven Rechte die Existenz eines Vernunftrechts behaupten, eben diese Vernunft als angeborene natürliche Anlage der Menschen erscheint. Über die Bedeutung dieser universalistischen Vorstellung eines Naturrechts für die Entwicklung des Individualismus s. weiter unten Kap. 3.

16) Gierke, Johannes Althusius S. 73 Note 14.

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Ziel und Mass für seine Handlungen empfängt, und die Neigungen der Menschen auf eine unbegrenzte Befriedigung gerichtet sind, im unreflektierten Triebe, im Selbstinteresse des einzelnen die Ursache für die Begründung der sozialen Gemeinschaft, für die Entstehung des Rechtes suchen. Aus den Vorteilen, die dem einzelnen durch die Gemeinschaft mit andern seinesgleichen erwachsen, und die ihn den Verzicht auf die schrankenlose Befriedigung seiner Begierden lehren, leitet der Individualismus die Entstehung der gesellschaftlichen Verbände ab, und das Recht erscheint ihm als Produkt des Strebens, die sich durchkreuzenden Interessensphären der einzelnen auszugleichen. Die sozialen Institutionen sind ihm daher nicht a priori gegebene, vom menschlichen Willen unabhängige Erscheinungen, sie sind bewusste Erzeugnisse des Willens; sie beruhen auf einem Vertrage der Individuen 17), nicht auf einer unbewussten Wirksamkeit der menschlichen Triebe. Alles Recht ist ihm positiven Ursprungs, ein Ergebnis bewusster, gewollter Rechtssetzung; es gibt für ihn kein „natürliches“, überall und zu allen Zeiten gültiges Recht, sondern nur ein von den Menschen für die Menschen geschaffenes. Der konsequente Individualismus muss wie der Nominalismus in den Utilitarismus münden: Erwägungen der individuellen Nützlichkeit, nicht angeborene soziale Triebe oder von der Weltvernunft diktierte Normen sind es, die den Menschen zur Gründung von gesellschaftlichen Verbänden veranlasst haben und sein Verhalten in der Gemeinschaft bestimmen.

Wenn Sombart die individualistische Auffassung des Wirtschaftslebens gelegentlich 18) dahin charakterisiert, dass hier

17) Vgl. auch Bonar, Philosophy and political economy p. 85: „Belief in spontaneous social products was logically impossible to any philosopher who regarded the individual man as the starting point and supposed him to form societies by the union of his particular will with another in a formal contract."

18) Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben S. 179. Die Juden haben, vor allem im Verkehre mit Andersgläubigen, den Individualismus zu einer Zeit schon betätigt, da die übrige Welt tief in den Fesseln des Kollektivismus lebte; waren sie doch ein Fremdkörper in den kollektivistischen Organisationen ihrer Zeit.

,,die Wirkenssphäre des einzelnen Wirtschaftssubjektes nach oben und nach unten hin durch keine objektive Satzung irgendwie begrenzt sei", hebt er instinktiv gleichzeitig den nominalistischen Charakter dieser Vorstellungswelt hervor 19). Diese Leugnung absoluter, dem Menschen angeborener Normen für sein sittliches Verhalten führt zu der unausweichlichen Konsequenz, dass, um die Ordnung der Gesellschaft zu ermöglichen, ein anderes, ein formales Prinzip die entstehende Lücke ausfüllen muss. Das alte, dem Pharisäer Hillel zugeschriebene Wort 20):,,Tue keinem anderen das, was du selbst nicht. von ihm erleiden möchtest" (Quidquid tibi ipsi fieri non volueris alteri ne feceris), ein Wort, das später seit Hobbes und Gassendi immer wieder als Richtschnur für das Handeln der Menschen aufgestellt wird, enthält in nuce die Morallehre des nominalistischen Individualismus, denn es leitet aus der individuellen Nützlichkeit, ohne Berufung auf ein absolut geltendes, mit positivem Inhalt erfülltes Moralgebot alle Lehren der Sittlichkeit ab, deren Inhalt es zunächst rein formal bestimmt. Ist nur der Trieb der Selbsterhaltung, das Streben nach Sicherung, des eigenen Vorteils unmittelbar gewiss, gibt es kein absolut geltendes Moralgebot, dann muss das Individualinteresse jedes einzelnen, damit es nicht unaufhörlich mit dem gleichartigen, aber entgegen gerichteten Interesse des Nebenmenschen in Konflikt gerate, auf eine bestimmte Sphäre beschränkt werden, und. dies kann nur durch den Vertrag der Beteiligten geschehen, durch eine Vereinbarung der Menschen über ihr gegenseitiges. Verhalten und eine auf die Verletzung der Verträge gesetzte Sanktion. So wurzelt der Vertragsgedanke tief im Wesen der individualistischen Vorstellungswelt: die Beschränkung der eigenen Interessensphäre erfolgt nicht in Erfüllung der Vor

19) Eine hübsche Bemerkung findet sich auch bei Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, 1906, S. 226: „Philosophisch und moralisch angesehen ist die Lehre (des Individualismus) von der Arbeit viel ärmer und dürftiger als die Lehre von der Arbeit als Gemeinschaftsleistung. Sie entspricht in etwas dem mittelalterlichen Nominalismus, der im Gegensatz zum damaligen Realismus das Wesen der Dinge in den Einzelerscheinungen sah: Arbeit ist Einzelleistung, kaufbar wie ein Raummeter Gas oder wie ein Zentner Kohle." 20) Vgl. Janet, Histoire de la science politique, 1871, Bd. I S. 301.

schriften einer absolut geltenden Moral, sondern lediglich aus freier vertragsmässiger Entschliessung.

Der Inhalt des Vertrags aber wird durch Erwägungen individueller Nützlichkeit bestimmt; es ist daher die Anerkennung der Nützlichkeit als eines sittlich berechtigten Faktors im sozialen Leben durchaus individualistisch-nominalistischen Ursprungs. Sie setzt voraus, dass das ureigene, von keiner höheren Verbandseinheit bestimmte Interesse des Individuums Güter und Handlungen nach Massgabe jener Bedeutung wertet, welche sie für das konkrete Individuum besitzen. Dagegen verwirft die rein kollektivistisch-universalistische Weltanschauung die Erwägungen der Nützlichkeit als Motive sittlichen Handelns. Die a priori vorhandene Norm, die alle gleichmässig bindet, ist ihr die alleinige Richtschnur für die Sittlichkeit, mag diese Norm ihre verbindende Kraft nun einer unmittelbar göttlicher Offenbarung entstammender Lehre entnehmen, oder sie auf eine dem Kollektivum von Gott übertragene Fähigkeit zur Bildung gesetzgeberischen Willens gründen, oder endlich aus einer in der menschlichen Vernunft wurzelnden überzeugenden Gewissheit herleiten. Wertvoll ist für diese Auffassung nur jenes Handeln, das der Norm gemäss, mithin gerecht ist. Unter dem Zeichen des Streites zwischen dem Nützlichen und dem Gerechten steht daher der Kampf zwischen der individualistischen und der kollektivistischen Weltanschauung.

Er steht gleichzeitig unter dem Zeichen des Ringens um die Freiheit und Gleichheit der Individuen. Nicht etwa, dass der Gedanke einer generischen Gleichheit der Individuen der universalistischen Auffassung fremd gewesen wäre. Im Gegenteil, in ihrer Vorstellungswelt lebt ja das Streben, in allen Individuen die der Gattung gemeinsamen Merkmale zu betonen, alle Besonderheiten, Ungleichheiten als zufällig, unwesentlich darüber zu vernachlässigen. So verträgt sich der Gedanke einer Gleichheit aller Menschen vor Gott trefflich mit der durchaus universalistischen Auffassung des Christentums. Aber diese entscheidende Richtung des Denkens lenkt die Aufmerksamkeit der Sozialphilosophen völlig ab von den konkreten Einzelindividuen und wendet sie ausschliesslich der Gattung zu, die ja als der

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