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und England geschehen. Sie haben einige Voraussetzungen der Theorie noch kräftiger entwickelt wie die Lehre von der geselligen Natur des Menschen und von der natürlichen Gesellschaft, die zwar noch als eine Summe von Familien erscheint, welche jedoch durch die Arbeitsteilung miteinander verbunden sind, so dafs der Naturzustand eine immer gröfsere Ähnlichkeit mit der bürgerlichen Gesellschaft gewinnt. Ausserdem bestand ihre Aufgabe darin, den Komplex der natürlichen Freiheit, welchen die Individuen in die bürgerliche Gesellschaft hinübergeführt haben, in eine Reihe von einzelnen Menschenrechten aufzulösen. Der wichtigste Schritt geschah dadurch, dafs man von diesem Punkte aus die Forderung der wirtschaftlichen Freiheit dem Naturrechte einverleibte.

Hat nun auch Locke das Naturrecht wieder auf stoische Grundlagen gestellt, so lässt sich doch nicht leugnen, dass er sie metaphysisch nicht begründet hat. Während im stoischen System alles zusammenhängend und klar ist, steht bei Locke das Gebäude auf sehr lockerem Fundamente. Von der Hartnäckigkeit des Thomas Hobbes, den Voraussetzungen der Deduktionen eine granitene Festigkeit zu geben, spürt man in dem Werke seines jüngeren Landsmannes sehr wenig. Hierdurch ersparte er sich aber auch die Schwierigkeiten des Grotius, und die feste Fundamentierung mochte er auch für eine Parteischrift nicht nötig erachten. Nimmt man aber die Prämissen als erwiesen an, dann ist die Folgerichtigkeit der Konsequenzen meistens zwingend. Der philosophisch vollendetste Teil seiner Theorie ist nach meiner Meinung die Begründung des Privateigentums an Grund und Boden, welche in den Darstellungen des Lockeschen Naturrechtes gewöhnlich verflacht wird; der philosophisch unvollkommenste ist die Rechtslehre Lockes.

Heben wir es noch einmal hervor: Locke ist der Vater des politischen und socialen Individualismus, der Lehre von den unantastbaren Grundrechten, den unveräusserlichen Menschenrechten, dem schwachen Staate, welcher nur Eigentum und Freiheit zu schützen hat, dessen einziger Zweck der Rechtszweck ist. Denn wenn auch von den früheren Naturrechtslehrern die Sicherheit als Zweck des Staates bezeichnet worden war, so hatten sie ihn doch hierauf nicht beschränkt. Wir sind mit einem Sprunge in das Reich des subjektiven Naturrechtes gelangt. Locke beseitigte alles, was dem Individualismus feindlich sein konnte: den epikureischen Naturzustand ohne Naturrecht, den Hobbesschen Unterwerfungsvertrag, die Socialitätstheorie des Grotius. Will man den ungeheuren Wandel der Anschauungen sich klar machen, so muss man insbesondere die Lehre Hobbes' und Pufendorfs vom Naturzustande und der natürlichen Gesellschaft dagegen halten.

Man hat wohl gemeint, es sei ein Widerspruch, dafs er, obwohl er eine natürliche Gesellschaft annehme, doch nicht wie

Grotius die Gesellschaft zum Princip seiner Theorie erhebe. Thatsächlich konnte er das nicht. Er begründet weitläufig, dafs Mann und Weib nur deshalb eine dauernde Verbindung eingehen, weil die lange Hülfsbedürftigkeit der menschlichen Jungen dies nötig macht; den Kindern spricht er die Selbständigkeit zu, sobald sie die Reife des Verstandes erlangt haben; das Verhältnis zwischen Herr und Diener ist zeitlich vorübergehend und kontraktlich beschränkt, und was dasjenige zwischen Herrn und Sklaven betrifft, so liefs dies noch weniger eine theoretische Verwertung zu. Denn erstens besteht es nur ausnahmsweise, und zweitens betrachtet er den Sklaven nicht als einen Teil der bürgerlichen Gesellschaft. So bleibt nur das Individuum mit seinen ewigen und unveräusserlichen Rechten. Die natürliche Gesellschaft Lockes hat keinen organischen Charakter. Wohl behauptet er, dafs die Erhaltung der Gesellschaft der Zweck des Staates sei; aber er versteht darunter stets die Individuen. An einer Stelle stellt er die Gesellschaft und das Individuum in Gegensatz1; aber der Zusammenhang des Ganzen ergibt, dafs die Opferung der einzelnen für das gesamte Beste die Unschädlichmachung oder Vernichtung der Verbrecher bedeutet.

Wir haben nun die Schranken des alten Naturrechtes weit hinter uns; die vorhergehende Darstellung möchte zu dem Glauben verführen, der Verfasser meine, der Wechsel der Anschauungen sei allein das Ergebnis eines theoretischen Prozesses. Das wäre ein grofser Irrtum. Was uns aus dem alten Naturrechte herausgeführt hat, ist keine Begriffsentwicklung, sondern ein höchst realer Vorgang: das Streben der besitzenden, vorzugsweise der Mittelklassen Englands nach Schutz ihrer Freiheit und ihres Eigentums vor den Übergriffen einer künftigen Staatsgewalt, welche, ähnlich wie die Stuarts, sowohl die Person der Unterthanen schädigen, wie ihr Eigentum willkürlich besteuern könnte. Das Gefühl der Unsicherheit erzeugt den Wunsch nach einem schwachen Staate, und das Gemüt möchte auch als wahr erwiesen sehen, was es so heftig begehrt. Dieses von einem jedenfalls politisch und social mächtigen Teile Englands empfundene Begehren befriedigte Locke, indem er auf das Naturrecht der Stoiker zurückgreift und es mit gröfster Gewandtheit für seine Zwecke gestaltet. Der rascheste Kulissenwechsel hat auf das absolute Fürstentum des 17. Jahrhunderts die konstitutionelle Monarchie Wilhelms III. folgen lassen.

Die Lockesche Theorie, in Verbindung mit der Geschichte des Naturrechtes gesehen, gestattet einen tieferen Einblick in den Zusammenhang der herrschenden politischen und socialen

1 The first and fundamental natural law

is the preservation of the society, and (as far as will consist with the public good) of every person in it. § 134.

Ideen mit den politischen und sozialen Zuständen der Zeit. Da diese Schrift auf einer bestimmten Ansicht hierüber beruht, so mufs sie mit wenigen Worten dargelegt werden. Neue politische oder sociale Ideen werden herrschend, wenn neue politische oder sociale Zustände dauernd Unbefriedigung in einem ganzen Volke oder einem mächtigen Bruchteil eines solchen erregen oder alte Zustände den gesteigerten Anforderungen und Bedürfnissen der Menschen nicht mehr entsprechen. Hierdurch wird ein Gefühl der Unbefriedigung hervorgerufen: sie erscheinen ungerecht. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, um einen Rechtsboden für die Umgestaltung zu besitzen, verlangt das Gemüt einen Beweis dafür, dafs die Gerechtigkeit verletzt sei. Zu diesem Zwecke schafft die Vernunft Theorieen und Doktrinen. Aber diese brauchen durchaus nicht originell zu sein, sie sind sogar gewöhnlich weitere Entwicklungen, Anpassungen alter Gedanken an die neuen Bedürfnisse. Was lange in alten Büchern geschlummert hat, gewinnt neues Leben, sobald sich ein guter Nährboden findet. Welchen Bestrebungen hat das Naturrecht allein in der neueren Zeit dienen müssen: den Bedürfnissen einer handeltreibenden Republik, des absoluten und aufgeklärten Fürstentums, der Mittelklassen und endlich des vierten Standes! Staatsabsolutismus und Volkssouveränetät, Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat, unveräusserliche Menschenrechte und alles verschlingende Staatsomnipotenz, Freiheit und Knechtschaft, Freiheit mit Centralisation und Freiheit mit Association sie alle haben im Naturrechte Platz gefunden. Nichts vermag so skeptisch gegen politische oder sociale Theorien zu stimmen wie die Geschichte des Naturrechtes. Dle Doktrinen überzeugen leicht, wenn sie beweisen, was man wünscht. Wer mit den Konsequenzen übereinstimmt, nimmt die Prämissen gern in den Kauf. Und gerade die Prämissen stehen überall in Frage, nicht nur in der Politik, sondern auch in den verwandten ethischen Wissenschaften. Wie naiv ist der Gedanke, man könne einen politischen Gegner überzeugen! In neun von zehn Fällen ist es unmöglich, weil der Gegner ein ganz anderer Mensch werden müfste, um sich überzeugen lassen zu können. Immer wieder ist die Arbeitswerttheorie in ihrer Unwahrheit innerhalb unserer Wirtschaftsordnung erwiesen worden; aber das socialistische Gemüt klammert sich immer wieder an sie an, weil sie beweist, was es fordert. Für die wissenschaftliche und noch mehr für die praktische Politik gilt das Wort Schopenhauers: der Wille schafft sich den Intellekt zu seinem Dienste. Und dieser Prozess geht gewöhnlich unbewufst vor sich.

Wenn also die herrschenden Ideen die materiellen, politischen und socialen Zustände reflektieren, so ist der Vorgang doch von einer physikalischen Spiegelung sehr weit entfernt, auch deshalb, weil die Theorien ihr Gepräge durch den Geist eines hervorragenden Mannes erhalten, welcher sie anderen mitteilt,

und ihrem unbestimmten Wollen die Wege weist. Ganze Generationen denken sie in der Form, in welcher er sie gedacht hat, und führen seine Ideale aus. Wie nüchtern und mafsvoll erscheint der Individualismus noch bei Locke, welchen enthusiastischen, fanatischen, mafslosen Charakter wird der politische Liberalismus bei Rousseau, der wirtschaftliche bei den Physiokraten empfangen! Auf welche Bahnen werden diese Theoretiker ihr Volk führen! Und andererseits erkennt man die Kraft des nationalen Geistes und der geschichtlichen Entwicklung bei Rousseau und bei Quesnay in dem zentralistisch-atomistischen Charakter ihrer politischen Systeme1).

Zweiter Abschnitt.

Lockes Schüler.

Unsere Aufgabe erheischt es nicht, alle Ausstrahlungen und selbst nicht einmal, alle bedeutenden Ausstrahlungen der Lockeschen Theorie zu verfolgen. Sonst dürften wir Christian Wolff, Rousseau und Kant nicht übergehen. Dagegen müssen wir die Werke dreier Männer betrachten, die man in der Geschichte des Naturrechtes vergeblich sucht, oder denen dort nur ein ganz bescheidenes Plätzchen angewiesen ist: Francis Hutcheson, François Quesnay und Adam Smith. Die verschiedenartige Begabung, die verschiedenartigen politischen und socialen Zustände, von denen sie umgeben sind, erklären die verschiedenartigen Leistun gen; gemeinsam ist den Dreien nur der Boden der Lockeschen Ideen, in dem sie wurzeln.

1. Hutcheson.

Hutcheson, ein schottischer Professor von hohem Idealismus und zornmütigem Charakter, dazu ein Schüler Shaftesburys, lebt in den politischen und ökonomischen Anschauungen, welche in dem von Wilhelm III. begründeten, von Locke verteidigten Staatswesen unter Georg I. und Georg II. herrschen. Ihm sind die religiöse und individuelle Freiheit heilig; die politische Freiheit, welche er predigt, ist diejenige, welche sich in dem aristokratischen Staatswesen Englands zu seiner Zeit herausgebildet hat; in dem Sinne Rousseaus ist sie ihm völlig unbekannt. Von der wirtschaftlichen Freiheit in der Formulierung Adam Smiths hat er noch keine Ahnung; er vertritt die Maximen des nach innen gemäfsigten Merkantilismus, welchem sein Vaterland in jener Periode huldigte. Die theoretische Abhängigkeit von Locke

1 Vergleiche über den Gegensatz der centralistisch-atomistischen Auffassung bei Turgot, Rousseau u. A. und der individualistisch-collektivistischen bei Böhmer, Wolff u. A. Gierke, Althusius, p. 256 ff.

zeigt sich fast auf allen Seiten, insbesondere in der Begründung des Privateigentums, in der Lehre von den Menschenrechten, die hier schon ziemlich ausführlich behandelt sind, und in der Schilderung des Naturzustandes, den er wesentlich friedlich malt. In Hutchesons Werk ist der liebenswürdige Glanz über den Menschen ausgebreitet, welcher aus Shafterburys Werken hervorstrahlt. In dem Naturzustande, den Hutcheson darstellt, finden wir die durch Arbeitsteilung verbundene, in Familien geschiedene natürliche Gesellschaft. Es ist bemerkenswert, dafs dem Lehrer Adam Smiths die Vorteile der Arbeitsteilung so bedeutend erscheinen, dafs er ihr einen grofsen Einfluss auf die Bildung der natürlichen Gesellschaft zuschreibt. Der Übergang aus dem Naturzustand in die bürgerliche Gesellschaft ist demgemäfs ein bedeutungsloserer Vorgang als bei den älteren Naturrechtslehrern, welche ihn als den Fortschritt von völliger Unsicherheit zur Sicherheit, von völliger Unkultur zur Kultur betrachteten. So erscheint denn charakteristischerweise bei Hutcheson als Staatszweck neben dem Schutz des Eigentums und der Freiheit „the promoting the general happiness by the concurring force of multitudes". Dabei sieht man, dafs er das Wirken des Staatslenkers für das allgemeine Wohl so weit fafst, dafs er in dessen kraftvollem Eingreifen gegen Dummheit und Eigensinn kein Verbrechen an der individuellen Freiheit findet1. Man wird durch diese Lehren in lebhafter Weise an Hutchesons Kollegen und Zeitgenossen, an unseren gelehrten, gründlichen Christian Wolff, den Schüler Leibnitzens und Zeitgenossen Friedrich Wilhelms I., den typischen Vertreter des polizeilich-kameralistischen Zeitalters, erinnert worden sein, in dessen Schriften ja ebenfalls der Staatszweck der öffentlichen Wohlfahrt, der allgemeinen Glückseligkeit, so sehr denjenigen der Sicherheit und des Schutzes von Freiheit und Eigentum verdrängt. Danach ist zu vermuten, dafs die Sorge für die materielle Wohlfahrt der Bürger eine ernste Aufgabe der Staatsgewalt geworden ist.

2. Quesnay und seine Schüler.

Der zweite, dem unsere Betrachtung gilt, heifst François Quesnay. Er ist Arzt, durch Beruf und Neigung der Beobachtung der Aufsenwelt, der Natur und des menschlichen Körpers zugewandt. Er ist weiter ein Zeitgenosse Ludwigs XV. Seine

1 It is well known how hard it is to make the vulgar quit their own customs for such as are far better in agriculture or mechanick arts etc. As there are in our species men of superior genius and penetration, and of more extensive views, nature points them out as fit to direct the actions of the multitude for the general good u. s. w. B. III, Kap. 4, II, 1.

2 Über Wolffs Wohlfahrtsstaat siehe z. B. Grundsätze des Naturund Völkerrechts. Halle 1754, §§ 43, 44.

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