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Viertes Kapitel.

Locke und seine Schüler.

Erster Abschnitt.

Locke.

Der Überblick über die Entwicklung des Naturrechtes, welcher im Vorhergehenden gegeben wurde, könnte zu dem Irrtum veranlassen, dafs die Nachfolger Pufendorfs nur eine neue Form für seine Lehren gesucht hätten. In Wirklichkeit unterscheidet sich der Inhalt ihrer Systeme in wesentlichen Stücken von dem seinigen; aber das Gerüst des Systems ist geblieben. Der theoretische Wandel in den Lehren ist gröfstenteils auf das zweite Buch von Lockes Two Treatises of Government" zurückzuführen, welche 1689 erschienen.

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Waren die Lehren des epikureischen Naturrechtes durch Gassendi und Hobbes mit grösserer oder geringerer Treue neu belebt worden, hatten sie Pufendorfs Absicht, sich den Stoikern anzuschliefsen, nicht zur ungetrübten Verwirklichung gelangen lassen, so erscheint in Lockes zweitem „Treatise of Government" der stoische Charakter des Naturrechtes in aller Reinheit und

mit allen Konsequenzen. Das ungeheure Ansehen, welches dieses Werk anderthalb Jahrhunderte hindurch genofs, führte den politischen Individualismus, die Überschätzung des natürlichen Rechtes, die Unterschätzung der positiven Satzungen und Gewalten, welche dem philosophischen System Zeno's eigentümlich gewesen waren, mit höchster Kraft in die Gedankenwelt der modernen Menschheit ein.

Locke lässt die Menschen im Naturzustande, in voller Freiheit und Gleichheit leben1. Mit dieser Gleichheit verträgt

1

all men are naturally in... a state of perfect freedom... a state also of equality. . . there being nothing more evident, than that

sich die Ungleichheit, welche Alter, Tugend, Begabung, persönliches Schicksal bewirken 1. Er versteht unter Gleichheit vorzugsweise die gleiche Freiheit von gegenseitiger Beherrschung 2. Er hält die Sklaverei, wenn sie die Folge eines gerechten Krieges ist, für naturrechtlich erlaubt 3. Die Kinder haben, ehe sie die Reife des Urteils erlangt, nicht gleiche Rechte mit den Eltern, ebensowenig die Frau völlig gleiche Rechte mit dem Manne in der Verwaltung des Hauswesens *. Auch streitet das soziale Herrschaftsverhältnis, welches zwischen Herrn und Diener besteht, nicht mit der natürlichen Gleichheit".

Der Naturzustand ist nicht mit dem Kriegszustande zu verwechseln, der in jenem wohl als Episode auftrat. In diesen Ausführungen ist schon angedeutet, dafs Locke die Existenz einer natürlichen Gesellschaft vor der Entstehung der bürgerlichen annimmt. Die erste Gesellschaft war die eheliche Gesellschaft, aus welcher diejenige zwischen Eltern und Kindern hervorging; hierzu kam die Gesellschaft zwischen Herrn und Diener und Herrn und Sklaven. Diese in der Familie zusammengefafsten Gesellschaften, wie sie den Zustand der natürlichen Freiheit und Gleichheit nicht aufheben, sind nicht mit der politischen oder bürgerlichen Gesellschaft zu verwechseln". Die natürliche Gesellschaft ist ebensosehr ein Produkt der Notwendigkeit, wie der Zweckmässigkeit und der Neigung. Der Mensch ist also ein geselliges Wesen.

Leben nun die zu natürlicher Gesellschaft vereinigten Men

creatures of the same species and rank, promiscuously born to all the same advantages of nature, and the use of the same faculties, should also be equal one amongst another without subordination and subjection II, § 4. Alle Citate sind aus dem 2. Buch genommen, weshalb in der Folge nur der Paragraph citiert wird.

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1 Though I have said above Chap. II. That all men by nature are equal," I cannot be supposed to understand all sorts of equality: age or virtue may give men a just precedency: excellency of parts and merits may place othersbove the common level: birth may subject some, and alliance or benefits others . . . and yet all this consists with the equality, which all men are in, in respect of jurisdiction or dominion one over another. § 54.

2 A state also of equality, wherein all the power and jurisdiction is reciprocal, no one having more than another, § 4. equality being that equal right, that every man hath to his natural freedom, without being subjected to the will or authority of any other man, § 54.

3 23. Die Sklaven bilden keinen Teil der bürgerlichen Gesell

schaft, § 85.
4 Kap. 6.

5 Obgleich der Diener gewöhnlich im Hause des Herrn, unter dessen Disciplin lebe, it gives the master but a temporary power over him, and no greater than what is contained in the contract between them". § 85. 6 §§ 77-86. put him (man) under strong obligations of necessity, convenience, and inclination to drive him into society, as well as fitted him with understanding and language to continue it. § 77.

7 God

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Forschungen (43) X 2. Hasbach.

4

3

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schen im Naturzustande im Zustande der Freiheit, so doch nicht in dem der Ungebundenheit1. Denn sie stehen unter der Herrschaft des Naturgesetzes, welches jedem die Verletzung eines anderen wie seiner selbst an Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum verbietet und die Erhaltung des Menschengeschlechtes will und jeden als Selbstzweck zu achten befiehlt1. Das Recht der Bestrafung an denjenigen, welche gegen das Naturgesetz freveln, steht dem Verletzten, aber auch jedermann zu. Durch Bedrohung des Lebens entsteht der Kriegszustand, welcher die Sklaverei des todeswürdigen, besiegten Angreifers rechtfertigt.

Wir sahen vorher, dafs Locke schon im Naturzustande Eigentumsvergehen annimmt. Existiert denn das Privateigentum nach Naturrecht? Jawohl und scine Begründung ist der wichtigste Zug seiner Lehre.

Der

Gott hat den Menschen die Erde als gemeinsames Eigentum verliehen. Aber da er sie alle frei und gleich schuf, gab er einem jeden das Privateigentum an seiner eigenen Person. Auf sie besitzt niemand sonst ein Recht. Die Arbeit seines Leibes, das Werk seiner Hände gehören ihm und ihm allein. Mensch hat, wie bekannt, das Recht der Selbsterhaltung Locke hätte richtiger sagen sollen, die Pflicht der Selbsterhaltung; er hat folglich auch das Recht auf Speise und Trank und andere Unterhaltsmittel 6. Da aber die von der Erde freiwillig geschenkten Unterhaltsmittel nicht genügen, so mufs der Mensch die Erde roden, bearbeiten, düngen, besäen; Gott hat dem Menschen die Arbeit befohlen. Durch seine Thätigkeiten mischt er mit der Erde etwas, was sein Privateigentum ist, und hierdurch macht er das Grundstück zu seinem Privateigentum. Wer es ihm entreifsen oder ihn im Genusse der Früchte seiner Arbeit beeinträchtigen wollte, verginge sich also an seinem natürlichen Rechte. Dafs das Privateigentum an Grund und

1 Though this be a state of liberty, yet it is not a state of licence, § 6. 2 The state of nature has a law of nature to govern it, which obliges every one: and reason, which is that law, teaches all mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to hurt another in his life, health, liberty or possessions. Every is bound to preserve himself, and not to quit his station wil

one.

fully, a. a. O.

3 which willeth the peace and preservation of all mankind, § 7. 4 There cannot be supposed any such subordination among us, that may authorize to destroy another, as if we were made for one another's uses, as the inferior ranks of creatures are for our's, § 6.

5 § 8.

6 $ 25.

7 Though the earth, and all inferior creatures, be common to all men, yet every man has a property in his own person: this nobody has any right to but himself. The labour of his body, and the work of his hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the state that nature hath provided, and left it in, he has mixed his

Boden gerecht sei, bemüht sich Locke auch dadurch zu zeigen, dafs er auf den Unterschied der Menge der Unterhaltsmittel eines bearbeiteten und eines brach liegenden Grundstückes hinweist. Locke beschränkt das Recht des Eigentumserwerbs auf eine solche Landfläche, welche die Ernährung des Eigentümers sichert, ohne dass jedoch etwas von den Früchten verdirbt. Da er aber die Verschenkung und den Umtausch des Überflüssigen gegen Gegenstände von dauerndem Werte für erlaubt hält, so ist damit keine Grenze gegen eine übermässige Ausdehnung des Privateigentums gegeben 1.

Der Gedanke des Privateigentums beherrscht so sehr die Lockesche Theorie, dafs er die Begriffe lives, liberties, and estates" mit dem Worte property zusammenfasste 2. Daher behauptet er denn auch, der Hauptzweck bei der Gründung der bürgerlichen Gesellschaft sei die Erhaltung des Eigentums3. Zu diesem Teile seiner Lehre müssen wir uns jetzt wenden.

In dem Naturzustande fehlt ein positives Gesetz. Das Naturgesetz ist einfach und verständlich; aber Interesse und Unwissenheit schwächen oft seine Kraft; es fehlt zweitens ein Richter, welcher mit Autorität und Objektivität Streitigkeiten entscheidet, da jeder in eigener Sache Richter ist; es fehlt häufig drittens an der Macht, einen Urteilsspruch durchzusetzen. Diese drei Übelstände bewegen die Menschen, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu begeben 4. Wären sie nicht entartet, dann hätten sie in der natürlichen, die ganze Menschheit umspannenden Gesellschaft unter der Herrschaft des Naturgesetzes verharren können, ohne sich in eine Anzahl bürgerlicher Gesellschaften aufzulösen 5. So aber werden sie durch die übermäfsig nicht genügend oder gar nicht bestraften Vergehen gegen Leben, Freiheit und Eigentum veranlafst, einen Vertrag abzuschliefsen, wodurch die politische Gesellschaft entsteht. Es wird nun ein positives Gesetz erlassen, ein kompetenter Richter ernannt und eine Exekution zur Durchführung eines Urteilsspruches be

labour with, and joined to it something that is his own, and thereby makes it his property, § 27. Man by being master of himself, and proprietor of his own person, and the actions of labour of it, had still in himself the great foundation of property. § 44.

1 The exceeding of the bounds of his just property not lying in the largeness of his possessions, but the perishing of anything uselessly in it, § 46. Daher denn auch die Aussage dishonest to carve himself too much, or take more, than he needed" keinen Sinn hat.

2 § 123.

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5 Were it not for the corruption and viciousness of degenerate men, there would be no need of any other (community); no necessity that men should separate from this great and natural community, and by positive agreements combine into smaller and divided associations. § 128. Locke spricht auch einmal von der Tugend des „golden age". § 111.

stellt. Ein jeder vermag nun Leben, Freiheit und Eigentum besser zn bewahren; aber er hat auch einen Teil der natürlichen Freiheit, Gleichheit und exekutiven Macht an den politischen Verband abgeben müssen. Dieser hat alles gewonnen, was die Individuen an ihn abgetreten haben; so weit reicht seine Macht, aber auch nicht weiter, und diese reicht so weit nur so lange, als er seinem Zwecke dient. Die Individuen haben zu Gunsten des Verbandes verzichtet nur auf die Freiheit, das Zweckmässige zur Erhaltung ihrer selbst zu thun, und auf die Bestrafung der Vergehen, welche an ihnen verübt worden sind, in Verfolg ihres eigenen Urteilsspruches. Es wäre also erstens eine Thorheit, zu glauben, dafs das Naturrecht in der bürgerlichen Gesellschaft nicht fortdauere1, da die bürgerliche Gesellschaft zum besseren Schutze des Naturrechtes gebildet worden ist; es wäre zweitens eine Thorheit, anzunehmen, dafs die übrigen natürlichen Rechte und Privilegien erloschen seien, deren Aufgabe die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft nicht notwendig macht 2.

Der Zweck dieser Darstellung erfordert kein weiteres Eingehen auf die Lockesche Theorie. Die vorhergehenden Ausführungen dürften ihre grofse Verwandtschaft mit den stoischen Grundanschauungen dargethan haben. Wir finden das goldene Zeitalter, den Naturzustand, in welchem alle Menschen frei und gleich waren und unter der Herrschaft des Naturgesetzes lebten, die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft infolge der Entartung der Menschen, die Lehre von der Fortdauer des Naturrechtes im Staate, so dafs das Naturgesetz die ewige Norm für das positive Gesetz darstellt, die geringe Wertung der bürgerlichen Gesellschaft, die als Loslösung von der uranfänglichen menschlichen Gemeinschaft erscheint, die Behauptung, dafs der Mensch ein geselliges Wesen sei und der Naturzustand nicht als ein Kriegszustand aufgefasst werden dürfe. Nachdem Locke das epikureische Naturrecht mit seiner relativen Wertschätzung der positiven, das Individuum bindenden Institutionen durch die Rückkehr zum stoischen Naturrechte überwunden hatte, wurde es möglich, den Anspruch des Vernunftrechtes auf höhere Geltung gegenüber dem positiven Rechte durchzusetzen und dem Individualismus die freieste Bahn zu bereiten. Dies ist im 18. Jahrhundert durch seine Schüler in Frankreich, Deutschland

1 The obligations of the law of nature cease not in society, but only in many cases are drawn closer, and have by human laws known penalties annexed to then. Thus the law of nature stands as an eternal rule to all men, legislators as well as others, § 135.

2 But though men, when they enter into society, give up the equality, liberty and executive power they had in the state of nature, into the hands of the society to be so far disposed of by the legislative, as the good of the society shall require; yet it being only with an intention in every one the better to preserve himself, his liberty and property u. s. w. § 131. Siehe auch § 137.

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