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Erstes Kapitel.

Die Lehren der Stoiker und Epikureer vom Naturrecht.

In der Philosophie des griechischen Altertums ist es fast von Anfang an ein Gegenstand der Erörterung gewesen, ob das Recht in der Natur begründet sei oder durch Menschensatzung entstehe. Heben wir es hervor: griechische Denker haben den Begriff des Naturrechtes zuerst ausgeprägt.

Seitdem Heraklit in volltönenden Worten verkündete, dafs alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen gespeist würden und Archelaos dem dunklen Epheser entgegenhielt, das Gerechte beruhe οὐ φύσει ἀλλὰ νόμῳ: wogte der Kampf der Geister immer weiter, bis er die Halle Zenos und den Garten Epikurs erfüllte. Aber auch hier löste man das Problem nicht endgültig. Vielleicht wurden die alten Doctrinen nicht einmal mit der Umsicht und Gründlichkeit des Aristoteles, mit der geistvollen Keckheit und Feinheit der Sophisten vorgetragen; aber sie erschienen abgeklärter und im engeren Zusammenhange mit der gesamten Weltanschauung.

Allein wenn dies auch nicht der Fall wäre, würden sie schon deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil das moderne Naturrecht in einem hohen, bisher gar nicht gewürdigten Grade von der Philosophie der Stoiker und Epikureer befruchtet worden ist.

Die Achse der stoischen Ethik ist die feurige Vernunft, Weltvernunft, Weltseele, welche den gesamten Stoff durchdringt. Je nachdem die stoffliche oder geistige Seite dieses Begriffes hervorgehoben wird, trägt die feurige Vernunft die Bezeichnung Feuer, Hauch (Pneuma) oder allgemeines Gesetz, Natur, Vorsehung. Doch erweist sich der Gegensatz von Gottheit und Materie als,,kein ursprünglicher und letzter: nach stoischer Lehre haben sich alle besonderen Stoffe erst im Laufe der Zeit aus

dem Urfeuer oder der Gottheit entwickelt, und sie werden sich am Ende jeder Weltperiode wieder in dasselbe auflösen". Die Gottheit ist,,ebenso als der Urstoff wie als die Urkraft zu bezeichnen.... das Urfeuer, welches Gott und die Materie als seine Elemente in sich trägt. ... die allgemeine Substanz. welche daher, in ihrer reinen Gestalt oder als Gott betrachtet, bald alles, bald nur einen Teil des Wirklichen umfasst" 1.

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Diese Grundgedanken enthalten erstens die Lehre von einer strengen Gesetzmäfsigkeit im Weltganzen.,,Die unbedingte Abhängigkeit aller Dinge von dem allgemeinen Gesetz und dem Lauf des Weltganzen, das ist überhaupt der leitende Gesichtspunkt für die stoische Weltansicht" 2. Aus ihnen folgt zweitens, dafs Naturgesetz und Sittengesetz ihrem Ursprung und Wesen nach identisch sind.,,Dieser vóuos ist Gesetz alles Seienden.... und Gesetz ebensowohl des φυσικόν und λογικόν, wie des ἠθικόν . . So wohnt das ethische Gesetz der Natur inne als einige und absolute Norm, welche, erhaben über Raum und Zeit, unabhängig von menschlicher Satzung, gleichmässig allen Menschen die Regel des Guten und Bösen ist" 3. Sie umschliefsen drittens den Satz, der hierin schon ausgesprochen ist, aber noch einer besonderen Betonung bedarf, dafs das Gesetz objektiv auch aufserhalb des Menschen existiert. Sofern nun das Gute in der allgemeinen Weltordnung begründet ist, welcher der einzelne sich zu unterwerfen hat, tritt es dem Menschen als Gesetz gegenüber." Dieser Gesichtspunkt ist,,von den Stoikern mit besonderer Vorliebe verfolgt worden" 4.

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Da nun der Mensch Teil und Glied des vernünftigen Universums, seine Seele ein Ausflufs der Weltseele ist, so tritt jenes Gesetz zugleich als Gesetz seiner eigenen Natur auf, und er vermag es zu erkennen.,,Indem dieses göttliche Gesetz von Menschen erkannt und anerkannt wird, entsteht das menschliche“ 5.

Verweilen wir bei diesem Punkte noch einen Augenblick. ,,Der allgemeine Grundtrieb aller Wesen ist der Selbsterhaltungstrieb und die Selbstliebe. Hieraus folgt unmittelbar, dafs jedes Wesen nach dem strebt, und dafs für jedes dasjenige einen Wert hat, was seiner Natur gemäfs ist . . . Naturgemäfs kann aber für den einzelnen immer nur das sein, was mit dem Gang und Gesetz des Weltganzen oder mit der allgemeinen Weltvernunft übereinstimmt, und für das bewusste und vernünftige Wesen nur dasjenige, was aus der Erkenntnis dieses allgemeinen Gesetzes und vernünftiger Einsicht hervorgeht Die Vernünftigkeit des Lebens, die Übereinstimmung mit der allgemeinen Weltord

1 Zeller a. a. O. p. 146.

2 Zeller a. a. O. p. 157.

3 M. Voigt, Die Lehre vom Jus naturale, aequum et bonum und jus gentium der Römer. 1856. I, p. 135.

4 Zeller a. a. O. p. 222.

5 Zeller a. a. O.

nung, ist mit einem Worte die Tugend". Daher entspricht das Gute einem natürlichen Triebe des Menschen, und er mufs sich sittlich verpflichtet fühlen, wenn er sich vernünftig fühlt2.

Niemals im ganzen Altertum sind das vernünftige Denken und Wollen, die Herrschaft der Natur und des Gesetzes, die wesentliche Harmonie von Natur und Vernunft so hoch emporgehoben, mit solchem Nachdruck behauptet worden, wie von den Stoikern. Erst im 18. Jahrhundert begegnen wir einer ähnlichen Verherrlichung von Natur und Vernunft. Sehen wir nun, welche politischen Ideale diese Lehren erzeugten.

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Da nur das vernünftige Denken und Wollen einen unbedingten Wert hat, so ist damit die Anerkennung einer unlöslichen Gemeinschaft aller Vernunftwesen gegeben. Ja, die Stoiker nehmen einen Trieb nach Gemeinschaft zwischen den einzelnen Vernunftwesen an. Alle Menschen stehen unter der Vernunft; sie alle haben mithin ein Recht und Gesetz, und sie wirken, sofern sie diesem Gesetze folgen, immer für das Ganze: man kann nicht für sich leben, ohne für andere zu leben . . . . so sind sie für einander da; ihre Gemeinschaft ist daher das unmittelbarste Gebot der Natur."3 Die Stoiker leiten also die Gemeinschaft aus dem Naturgesetze her, nicht das Naturgesetz aus der Gemeinschaft. Dies ist zur Charakterisierung der stoischen oixeiwots wichtig. Es wird nun verständlich, dass Mark Aurel so weit geht, den Trieb nach Gemeinschaft als den Grundtrieb des Menschen anzusehen.

Hieraus folgte nun weiter: „Wenn die menschliche Gemeinschaft. . . . nur auf der Gleichheit der Vernunft in den einzelnen beruht, so haben wir keinen Grund, diese Gemeinschaft auf ein Volk zu beschränken, oder uns dem einen verwandter zu fühlen als dem anderen; alle Menschen stehen sich, abgesehen von dem, was sie selbst aus sich gemacht haben, gleich nahe, da alle gleichmässig an der Vernunft teil haben, alle sind Glieder eines Leibes; denn dieselbe Natur hat sie aus einerlei Stoff für die gleiche Bestimmung gebildet, oder, wie dies Epiktet religiös ausdrückt, alle sind Brüder: denn alle beten in gleicher Weise zum Vater". Zum erstenmale tritt der Kosmopolitismus mit gröfster Entschiedenheit im Gewande einer philosophischen Doktrin auf. Patriam meam esse mundum sciam et praesides Deos: das ist nach den Worten Epiktets diese Weltanschauung in knappster Form. Wie das Menschliche in diesem Systeme leicht in das Natürliche hinüberzittert, so sehen die Stoiker nach Plutarch in dem Weltganzen ebenfalls einen Staat. Der Behauptung: τὸν κοσμόν εἶναι πόλιν καὶ πολίτας τοὺς ἀστέρας fehlt es nicht an dichterischer Erhabenheit.

1 Zeller, p. 208 fg.
2 Zeller, p. 222, 223.
3 Zeller, p. 286.
4 Zeller, p. 299.

Mark Aurel wird nicht müde, den Kosmopolitismus zu predigen: „Meine Natur aber ist eine vernünftige und für das Gemeinwesen bestimmte; meine Stadt und mein Vaterland, insofern ich Antonin heifse, Rom, insofern ich ein Mensch bin, die Welt." (VI, 44.) „Haben wir das Denkvermögen miteinander gemein, so ist uns auch die Vernunft gemein.... ist dies, so haben wir auch das Gesetz gemein; ist dies, so sind wir alle Bürger und nehmen an einem gemeinschaftlichen Staate teil: ist dies, so ist die Welt gleichsam ein Staat“ (IV, 4). „Es liegt ja nichts daran, ob einer hier oder dort, wenn er nur überall in der Welt wie in seiner Vaterstadt lebt" (X, 15). Zu jenem Weltstaate, meint er, verhalten sich die übrigen Staaten nur wie die einzelnen Häuser zur ganzen Ortschaft" (III, 11) 1. Dafs dieser Weltstaat der Stoiker mit dem politischen Gebilde, welches die Anarchisten einzuführen hoffen, mehr Ähnlichkeit hat, als mit irgend einem anderen Gemeinwesen, geht noch deutlicher aus folgenden Worten Zellers hervor: „Aber das eigentliche Ideal der Stoiker war keine der bestehenden Staatsformen, sondern jener Staat der Weisen... ein Staat ohne Ehe, ohne Familie, ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnasien, ohne Münze, ein Staat, dem keine anderen Staaten gegenüberstehen, weil alle Grenzen der Völker in einer allgemeinen Verbrüderung aller Menschen sich aufheben" 2.

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Das Eintreten der Stoiker für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, Weltbürgertum, Herrschaft der Vernunft, vertrug sich wenig mit dem Interesse am Wirken in den bestehenden Staaten. Wer sich als Bürger der Welt fühle, für den sei jeder einzelne Staat ein viel zu kleiner Wirkungskreis", meinen Seneka und Epiktet. Noch charakteristischer ist folgender Ausspruch Epiktets: Du fragst, ob der Weise sich mit dem Staate beschäftigen werde? Aber welcher Staat wäre gröfser, als der, mit dem er sich beschäftigt? Er, der sich nicht an die Bürger einer Stadt wendet, um über Staatseinkünfte und dergleichen, sondern an alle Menschen, um über Glückseligkeit und Unseligkeit, Freiheit und Knechtschaft zu ihnen zu sprechen" 4. Chrysipp, der wissenschaftliche Bildner des Systems Zenos, ist der Ansicht, dafs der Weise nur Anteil an dem Leben solcher Staaten nehmen dürfe, in welchen ein Fortschritt zur Vollkommenheit wahrzunehmen wäre 5. Endlich ist nicht zu vergessen, dafs die Gleichgültigkeit der Stoiker gegen die äufseren Zustände ihren reformatorischen

1 Mark Aurels Selbstgespräche, übersetzt von C. von Cless (Deutsche Volksbibliothek der griechischen und römischen Klassiker). 2 Zeller a. a. O., p. 294.

3 Zeller, p. 296.

4 Zeller a. a. O.

5 Zeller, p. 295.

Eifer dämpfen musste. Man sieht dies an ihrer Stellungnahme zur Sklaverei. Ein Dichter könnte sagen: ihre Ideen fanden handelnde Geister zuerst zur Zeit der französischen Revolution.

Die Schule verstand es, ihre Lehre von dem vernünftigen Naturgesetze mit der Volkssage vom goldenen Zeitalter zu verknüpfen, die sich bei allen älteren Völkern findet1. Während jener glücklichen Urzeit des Menschengeschlechtes herrschte nach stoischer Lehre das Naturgesetz ausschliesslich; die Verderbnis, die später hereinbrach, hatte das positive Gesetz im Gefolge. „Immer aber mufs neben diesen menschlichen Gesetzen jenem göttlichen Rechtsgesetze eine absolute Gültigkeit und Herrschaft beigemessen werden, so dafs die ersteren nur insoweit, als sie mit dem letzteren übereinstimmen, bindende Kraft besitzen und ihre Gültigkeit überhaupt nur auf ihre Harmonie mit dem göttlichen Gesetze sich stützt. Insoweit daher das Naturrecht und das positive Recht sich widerstreiten, mufs letzteres aller verbindlichen Kraft ermangeln ... Demgemäfs lebt und handelt der oogós der Theorie nach unabhängig vom positiven Gesetze als wahrhaft Freier und lediglich nach seinen eigenen Grundsätzen“ 2.

Die griechische Philosophie findet bekanntlich gegen Ende der Republik allgemeinen Eingang in Rom. Mit Zusätzen aus anderen Systemen verbunden werden die stoischen Anschauungen von Recht und Staat von Cicero reproduziert; durch die römischen Juristen gewinnen sie Einfluis auf das römische Recht. Cicero und die römischen Juristen übermitteln sie zuerst der spätern Zeit.

Doch ehe wir diesen Vorgang ins Auge fassen, mufs der ganz verschiedenen Lehren der Epikureer gedacht werden. Der Epikureismus ist bekanntlich das umfassendste System des metaphysischen und ethischen Materialismus, welches das Altertum hervorgebracht hat. Durch die Wiedererweckung dieses Lehrgebäudes ist die moderne Welt in alle Tiefen der naturalistischen Weltanschauung geführt worden. Dasselbe System, welches das Universum aus dem Falle un beseelter Atome entstehen liefs, erklärte die Gesellschaft aus dem Zusammentreten selbstsüchtiger, von dem Gebote keines inneren oder äufseren Gesetzes beherrschter Individuen; Moral und Recht leitete es aus den Nütz

Gütersloh

1 Zöckler: Die Lehre vom Urstande des Menschen. 1879. In dem dritten für Nicht- Theologen besonders bemerkenswerten Kapitel „Die Traditionen des Heidentums" heifst es: „Ein goldenes Zeitalter mit darauf gefolgtem allmählichem Herabsinken zur Dürftigkeit und Kümmerlichkeit heutiger Zustände, eine Paradieses wonne mit langsam erbleichendem Glanze ist in der That Gemeinbesitz der Tradition aller älteren Völker." S. 103.

2 Voigt a. a. O., p. 142, 143.

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