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lichkeitserwägungen der um Frieden und Leben besorgten Menschen ab. Für die Entwicklung der Staatswissenschaften aber war es bedeutungsvoller, dafs die Epikureer ein geregeltes Zusammenleben erst durch einen Staatsvertrag zustande kommen liefsen, welchen die Menschen aus Rücksicht auf ihren Nutzen, vom Selbsterhaltungstriebe angeregt, miteinander abschlossen. Vor dem Staatsvertrage gab es kein Recht, lehrten die Epikureer konsequent; denn es fehlten in ihrem System die metaphysischen Voraussetzungen: die Annahme einer Weltvernunft, die das Universum durchdringt, oder eines Schöpfers, welcher bestimmte Gebote erlassen hat; im Naturzustande brachte der Stärkere seine Macht rücksichtslos zur Geltung. Das Recht, das ist eine zweite Konsequenz ihrer Lehre, hat kein unabhängiges, selbständiges Dasein, es existiert nur soweit, als Verträge abgeschlossen worden sind. Für solche Wesen, die sich nicht durch Verträge binden können, giebt es weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, ebenso wenig für solche Völker, die keine Verträge miteinander haben eingehen mögen. Das Naturrecht, sagt daher Epikur konsequent, ist ein Vertrag über das, was geschehen muls, damit wir andere nicht verletzen noch von ihnen verletzt werden 1.

In dieser Aussage über das Naturrecht dürfen wir wohl eine Auseinandersetzung mit den Stoikern sehen. Epikur muss von seinem Standpunkte das Dasein eines vor und über allem positiven Rechte bestehenden Naturrechtes leugnen; aber er sieht ein, dafs die Menschen der vorgesellschaftlichen Zeit ein lebhaftes Bedürfnis empfinden mufsten, in geordnete Zustände überzugehen. Der Gesellschaftsvertrag ist die Brücke zwischen Rohheit und Kultur und wird die Grundlage aller weiteren Fortschritte; denn auf ihm baut sich das Gerüst der positiven Gesetze auf, die natürlich nach den Bedürfnissen und Nützlichkeitserwägungen der verschiedenen Länder verschieden ausfallen müssen. Soll der Begriff Naturrecht in diesem System Aufnahme finden, so kann er nur die Bedeutung haben, dafs es überall der Naturtrieb der Selbsterhaltung ist, welcher zum Staatsvertrage führt... Er (Epikur) nimmt daher, freilich in einem anderen Sinne als die früheren, an, das Gerechte beruhe auf der Natur, und versteht unter dem Naturgerechten die Anforderung, dafs jener Sicherungsvertrag geschlossen werde" 2.

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1 τὸ τῆς φύσεως δίκαιόν ἐστι σύμβολον τοῦ συμφέροντος εἰς τὸ μὴ βλάπτειν ἀλλήλους μηδὲ βλάπτεσθαι. Ritter und Preller, historia philosophiae graecae et romanae ex fontium locis contexta. 4. Á. p. 356. Ich übersetze an dieser Stelle wie Guyau (Morale d'Epicure) und ähnlich wie Hildenbrand „das Naturrecht", was mir dem Sinne nach und philologisch als das einzig Richtige erscheint, und bedauere mit so gewichtigen Autoritäten wie Zeller und Voigt nicht übereinstimmen zu können. Zeller übersetzt ,,Das Recht ist seiner eigentlichen Natur nach" a. a. O. p. 455 und Voigt „Justum natura est utilitatis pactum" a. a. O. p. 131. 2 Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie 1860, I, p. 516.

Es ist unumgänglich notwendig, einen Punkt der epikureischen Lehre mit aller Deutlichkeit hervortreten zu lassen, obgleich er in dem Vorhergehenden schon bezeichnet wurde. In dem epikureischen System existiert der Gegensatz von natürlichem Recht und positivem Recht nicht. Alles Recht ist positives Recht. Die Epikureer konnten daher auch nicht behaupten, es wäre möglich, den Wert des positiven Rechtes an dem Mafsstabe des Naturrechtes zu messen, oder das positive Recht hätte keine verbindliche Kraft, wenn es dem Naturrecht widerstreite. Dies ist, wie man sich erinnern wird, die stoische Lehre, die auf ganz anderen metaphysischen Grundlagen beruht. So zeigt sich auch hierin jener schöne Zug der antiken Philosophie, aus den für wahr gehaltenen Prämissen fadengerade die Konsequenzen zu ziehen. In ein bedenkliches Schwanken gerieten dagegen diejenigen modernen Naturrechtslehrer, welche epikureische und stoische Gedankenelemente verschmolzen; sie mufsten sich in innere Widersprüche über die Fortdauer des Naturrechtes im Staate verwickeln. Doch kehren wir zur epikureischen Lehre zurück.

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Als eine weitere Konsequenz der Grundanschauungen wird der Gedanke einer inneren Verpflichtung, die Gesetze zu beobachten, abgewiesen. Recht und Gesetz ist somit nicht an und für sich, sondern um seines Nutzens willen verbindlich, die Ungerechtigkeit nicht an und für sich, sondern wegen ihrer Nachteile zu verwerfen“ 1. Der Weise befolgt das Gesetz, weil er dessen Nützlichkeit einsieht, der Ungebildete aus Furcht vor den Strafen, welche für ungesetzliches Handeln angedroht sind. Jeder darf das Gesetz übertreten, welches seine Interessen verletzt; aber er mufs befürchten, entdeckt und bestraft zu werden, was seine Gemütsruhe trübt die doch nach Epikur das höchste Gut ist.

Dafs die Epikureer von dem vorstaatlichen Zustande der Menschen eine ganz andere Vorstellung hatten als die Stoiker, verwandt mit derjenigen, welche von den Sophisten vertreten und viele Jahrhunderte später von Gassendi, Hobbes, Spinoza erneuert wurde, ist schon angedeutet worden. Ohne Verträge und Gesetze, meint Metrodor, würden die Menschen einander auffressen. Dieser Teil ihrer Lehre findet eine breite Darstellung in dem Lehrgedichte des Lucretius Carus: De rerum natura.

Hier wird am entschiedensten die Volkssage und die Lehre der Stoa angefochten. Es gab nie, so vernehmen wir, ein goldenes Zeitalter, eine Kulturhöhe, von der die Menschheit allmählich herabgesunken ist, sondern im Anfang war die Not, die Armut, die Unwissenheit und die Rohheit. Die Geschichte des Menschengeschlechtes ist nach Lucretius die Geschichte einer allmählichen stufenweisen Entwickelung zur materiellen, sittlichen und intellectuellen Kultur. Stets mufs der Naturalismus im

1 ἡ ἀδικία οὐ καθ ̓ ἑαυτὴν κακόν, ἀλλ' ἐν τῷ κατὰ τὴν ὑποψίαν poßq. Ritter und Preller a. a. O.

schneidendsten Gegensatz zu den Lehren der christlichen Religion die Idee des Fortschrittes vertreten 1.

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Einzeln schweiften anfänglich die Menschen umher; sie begatteten sich wie die Tiere, wenn das Bedürfnis erwachte und sich Gelegenheit bot; noch fehlte ihnen die Sprache, welche erst mit dem geselligen Leben entsteht. Ein jeder lebte nur für sich, kümmerte sich nicht um das Wohl und Wehe der anderen; Sitte und Gesetz waren unbekannt. Erst als sie das Feuer kennen gelernt, Hütten gebaut und feste Geschlechtsverbindungen geknüpft hatten, entstand das Bedürfnis nach Frieden. Sie waren nun ansässig geworden, sie lebten familienweise zusammen und die zunächst Wohnenden schlossen förmliche Verträge miteinander ab, einander nicht zu verletzen, sowie die Frauen und Kinder gemeinsam zu verteidigen 3.

Es ist für unsere Zwecke belanglos, das Gedicht des Lucretius noch weiter zu verfolgen. Dagegen müssen wir zum Schlusse die Lehren der Epikureer über das Entstehen der Gesetze noch einen Augenblick ins Auge fassen. „Da nun derartige Verträge," heist es in Zellers Darstellung, „nur durch diejenigen ins Leben gerufen werden konnten, die es den andern an Einsicht zuvorthaten, diese aber dabei natürlich (wie jeder verständige Mensch) ihren eigenen Vorteil im Auge hatten, so kann auch gesagt werden, die Gesetze seien nur der Weisen willen gemacht, nicht damit diese kein Unrecht thun, sondern damit sie kein Unrecht leiden möchten" 4.

So ist also schon bei den Epikureern in aller Klarheit die Meinung ausgesprochen, die wir im 18. Jahrhundert so häufig vernehmen, dafs die Gesetze bewusst gemacht werden, und zwar von den Weisen zu ihrem eigenen Vorteil. Jener Ansicht ent

1 Siehe die Erörterungen Guyau's: "La morale d'Épicure". Paris 1878, liv. III, chap. III. Le progrès dans l'humanité."

2 Guyau läfst die Menschen horden weise herumschweifen: „Les hommes, ajoute-t-il (Lucrèce), erraient par troupeaux, comme les bêtes." Ich habe dies aus der Darstellung des Lucretius nicht entnehmen können.

8 Die epikureischen Lehren von der Entstehung von Staat und Kultur finden einen selbständigen Vertreter in Polybius. Karl Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie. Leipzig 1860, I, p. 535. Selbst bei Aristoteles sind Anklänge an diese Auffassung vorhanden. Wohl lehrte er und mufste es im Geiste seines Systemes lehren, dafs der Staat früher da sei als das Individuum; aber auch er läfst, nicht thatsächlich, aber der Betrachtung wegen, den Staat aus einfachsten und kleinsten Teilen entstehen. Er kennt den Begriff des staatlosen Naturzustandes. Der Mensch, welcher aufserhalb des Staates lebt, ist ihm ein Mann ohne Sippe, ohne Recht, ohne Herd“, er lebt auf eigene Faust und vermag den Zustand nicht zu ertragen, wenn er nicht besser oder schlechter als ein Mensch ist. Geschaffen mit Anlagen zur Einsicht und Tugend, kann er dieselben nur im Staate entfalten; losgelöst von Recht und Gesetz ist er das allerschlimmste Geschöpf. Der Staat, erklärt der Stagirit ausdrücklich, entstand des Lebens willen.

4 Zeller a. a. O., III, 1, p. 456.

spricht die bekannte geringe Meinung, welche die Epikureer von einem Wirken im Staate hatten. Der Weise wird nur dann nach politischem Einflusse streben, wenn seine Sicherheit es erfordert; im übrigen überläfst er das Gemeinwesen den ehrgeizigen Menschen.

Überblicken wir die beiden philosophischen Systeme, deren Lehren über Recht und Staat wir vorher betrachtet haben, so fallen die gröfsten Verschiedenheiten ins Auge. Dort am Anfange die ewige Vernunft, hier das Spiel der Atome; dort beim Beginne der Menschengeschichte die Gleichheit und Freiheit aller Vernunftwesen im goldenen Zeitalter, hier die Gleichheit sittlicher Ungebundenheit, in einer Periode voll Rohheit und Barbarei; dort ein ewiges Naturgesetz, hier Gesetzlosigkeit, bis aus dem Triebe nach Selbsterhaltung der Gesellschaftsvertrag hervorgeht; dort Hinneigung zur republikanischen Verfassung, welche mit der Freiheit und Gleichheit aller Vernunftwesen am meisten verträglich scheint, hier Vorliebe für die monarchische Staatsform, welche den Frieden am kräftigsten zu sichern die Aussicht bietet1; dort ein Herabsinken von uranfänglicher Höhe, hier ein allmähliches Emporsteigen zu materieller und sittlicher Kultur; dort die Lehre, dafs das Naturrecht vor dem positiven Gesetze gegolten habe, im Staate noch gelte und über alle Staatsgesetze erhaben sei, mit anderen Worten, dafs das, was die individuelle Vernunft des Weisen für wahr halte, eine höhere Geltung beanspruchen dürfe als alle positiven Gesetze, hier die Leugnung alles Naturrechtes im stoischen Sinne und die Behauptung, dafs der Mensch sich über jedes Gesetz hinwegsetzen dürfe, wenn er es in seinem individuellen Interesse für nützlich halte. Und doch ist noch genug des Gleichartigen vorhanden; denn beide Systeme nehmen einen Naturzustand vor der Gründung des Staates an, in dem niemand durch eine positive gesetzliche Macht in seiner Freiheit beschränkt werde und folglich auch alle Menschen in dieser Beziehung im Zustande der Gleichheit lebten; beide predigen den ethischen und politischen Individualismus, der eine den Individualismus der Vernunft, der andere den des Interesses; beide stehen allen realen politischen Gebilden wenn nicht feindselig, so doch gleichgültig gegenüber; das Individuum beherrscht das Interesse der Stoiker und der Epikureer.

1 Wie der strengen und kräftigen Sittenlehre des Stoicismus jene unbeugsame republikanische Gesinnung entsprach, die wir namentlich in Rom so oft mit stoischer Philosophie verknüpft finden, so war es umgekehrt dem weichen und furchtsamen Geist des Epikureismus gemäfs, den Schutz der monarchischen Verfassung aufzusuchen. Zeller, p. 458.

Zweites Kapitel.

Das Naturrecht in Rom und im Mittelalter.

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Wir wollen nun die Überführung der stoischen Lehre von Recht und Staat in die Schriften Ciceros und der römischen Juristen verfolgen, und zwar unter der Führung Voigts, welcher diesen Gegenstand mit staunenswerter Gelehrsamkeit behandelt. Folgendes ist nach ihm die Lehre des römischen Philosophen: Die lex naturae oder lex naturalis oder summa, vera lex oder caelestis lex. . . ist das Gebot Gottes selbst, hervorgegangen aus dessen ratio, und Gott selbst inwohnend und in und mit Gott auch dem Weltall und der Natur. Daher ist diese lex selbst eine summa oder recta ratio, wie eine mens oder ratio Dei, und eine ratio naturae. Sie ist von Gott den Menschen gesetzt als Anforderung an dessen ratio: als Vorschrift des zu Thuenden und zu Unterlassenden. Unabhängig von der Meinung und individuellen Anschauung der Menschen, wie der Nationen, ist sie communis lex naturae: uranfängliche und ewige, gleichmäfsige und una bänderliche Vorschrift für alle Zeiten und Völker, ein Ausdruck der absoluten Wahrheit, der höchsten Weisheit Gottes. Zur vollen Erkenntnis dieser lex gelangt der Mensch durch eigene Thätigkeit: Die Vorstellung von den Geboten der lex ist in ihren Grundanlagen als Keim und in kleinen Verhältnissen dem Menschen eingeboren; allein die ungetrübte Erkenntnis derselben .... ist lediglich die Frucht des ernsten Strebens und Ringens nach höchster Wahrheit

Das durch die lex naturae gebotene Recht wird jus naturae oder jus naturale im Gegensatz des Quiritium jus genannt.... Den Menschen ist der Begriff dieses Rechtes gleichmässig ein

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